Nichts über uns, ohne uns!


Als Falken kämpfen wir für eine Gesellschaft, in der: „[…] kein Mensch aufgrund sozialer Klasse, Geschlecht, Herkunft, Behinderung oder sexueller Orientierung benachteiligt wird.“ So zumindest die Formulierung, die die Bundesfrauenkonferenz in ihren Anträgen regelmäßig mit einbringt. Ansonsten findet sich auf Falkenseiten im Internet recht wenig zu behindertenpolitischen Schlagwörtern wie Teilhabe, Inklusion, Barrierefreiheit, Behinderung oder sonstigen „Krüppelthemen“. In einer Handvoll Anträge aus dem Juni 2011 taucht Behinderung zumindest als kurzer, eigener Abschnitt auf. Das soll nicht heißen, dass Falken behindertenfeindlich sind. Als Mensch mit Behinderung habe ich mich in meinem Verband immer gut aufgehoben gefühlt.

Trotzdem: Es lässt sich noch einiges verbessern, denn Ausgrenzung findet auch ohne bewusste Feindlichkeit statt. Ableismus (vom englischen ‚ability‘ = Fähigkeit/Können), also die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung wird generell – auch in linken Kreisen – gerne stiefmütterlich behandelt. Die Falken sind da keine Ausnahme: Oder kennt Ihr viele Genoss*innen mit Behinderungen oder habt das Thema jüngst aktiv diskutiert? Zugegeben, die Frage ist nicht ganz fair, da sich nicht jede Behinderung an der Nasenspitze ablesen lässt und mit Rollstuhl, Krücken oder Blindenstock daherkommt. Nimmt man auch chronische und psychische Erkrankungen hinzu, kämen wir wohl auf einen bedeutenden Teil Betroffener.

Das soziale Modell

Nichtsdestotrotz, damit ein Verband inklusiv ist und Menschen jedweder Fähigkeit einschließt, braucht es mehr als nur einen Absatz in einem Antrag. Das Schlagwort ist hier „Barrierefreiheit“ und beschreibt neben physikalischen Barrieren (z.B. mangelnden Rampen) auch jene Hindernisse, die Menschen mit Behinderungen im Alltag, nunja, „behindern“. Aus der Sicht der Behindertenbewegung sind es nämlich nicht Menschen mit ihren Beeinträchtigungen, die behindert sind, sondern die Umwelt und Gesellschaft, die uns beHindern. Dieses, in der Fachwelt als „soziales Modell“ bekannte, Verständnis von Behinderung unterscheidet sich vom „medizinischen Modell“. Letzteres betont eher die körperlichen oder sonstigen Erkrankungen und „Defizite“.

Das „soziale Modell“ ist nicht zuletzt eine Errungenschaft der Behinderten- oder vielmehr „Krüppelbewegung“. Der Begriff „Krüppel“ wurde hier von Aktivist*innen der 1980er Jahre bewusst gewählt, um zu provozieren und sich gegen die damalige Bevormundung durch Behinderteninitiativen, Sonderschulen, Heime und Politik abzugrenzen. Nicht Mitleid wollten die 5.000 Menschen mit und ohne Behinderung, die am 8. Mai 1980 in Frankfurt demonstrierten. Aktivist*Innen blockierten Straßenbahnen, schlugen Bundespräsidenten mit Krücken vors Schienbein, hielten ein „Krüppeltribunal“ ab und engagierten sich für mehr Selbstbestimmung, Anerkennung, Mobilität und vieles mehr. In den Jahren danach wurde es etwas stiller, nicht zuletzt da viele Aktive sich lokal engagierten, um bspw. „Initiativen für ein Selbstbestimmtes Leben“ zu etablieren. Es ging viel darum, das alte Modell, nach dem Pfleger*Innen, Eltern oder Sonderpädagog*innen den Alltag „ihrer“ Behinderten regelten, durch eines zu ersetzen, in dem die Menschen mit Behinderung selbst ihre Bedürfnisse artikulieren und ihr Leben – unterstützt durch Assistent*Innen – danach ausrichten.

Über diese Bewegung und ihre Vorgeschichte, die wenigen bekannt ist, ließe sich viel schreiben. Gerade die Rolle der Arbeiter*innenbewegung, mit ihrem Körper- und Leistungskult, könnte vermutlich ganze Artikel füllen. Immerhin, obwohl es die Nazis waren, die mit der „Aktion T4“ die Ermordung von Behinderten durchsetzten, waren auch einige Sozialdemokrat*Innen und Sozialist*Innen standfeste Eugeniker*Innen. Das Buch „Behinderung: Chronik eines Jahrhunderts“1 von Christian Mürner und Udo Sierck bietet hier interessierten Genoss*Innen einen guten Einstieg.

So wichtig diese geschichtliche Auseinandersetzung für uns zweifelsohne ist, im Hier und Jetzt gibt es weiterhin genug Baustellen. Wir können uns damit auseinandersetzen, wie barrierefrei unsere Veranstaltungen und Zeltlager wirklich sind und wie wir sie barrierefreier gestalten können. Wer sich damit auseinandersetzen mag, kann gerne einmal in den Materialien des AK moB 2 blättern. Auch ist in jüngster Zeit, besonders im Zusammenhang mit dem neuen Bundesteilhabegesetzes, wieder etwas Bewegung in die aktive Behindertenpolitik gekommen und hier können wir als sozialistischer Verband aktiv Solidarität leben. Immerhin, das Motto der Behindertenbewegung, „Nichts über uns, ohne uns!“ und „Wir wollen selbst entscheiden, wie wir unser Leben gestalten!“, könnte genauso gut Slogan einer Kinderrepublik sein. Darin, zuzuhören, wie gesellschaftlich ausgegrenzte und benachteiligte Menschen gerne leben würden und Wege zu finden, dies den Bedürfnissen und Fähigkeiten der je Einzelnen entsprechend, umzusetzen, sollten wir doch eigentlich geübt sein, oder?

Oliver Lauenstein, Bezirk Hannover

  1. Günstig über die Bundeszentrale für politische Bildung bestellbar
  2. AK moB – Arbeitskreis mit ohne Behinderung. Im AK moB arbeiten behinderte und nichtbehinderte Leute zusammen. Wir beschäftigen uns mit der fragwürdigen Einteilung in „behindert/nichtbehindert“ und mit den gesellschaftlichen Ausschlüssen, die sie produziert. www.ak-mob.org