Vielfalt und Teilhabe

Qualitätsprozess Inklusion in der
Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein

Hat eine Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (2006) eine praktische Auswirkung für die Kinder- und Jugendarbeit? Diese Frage stellten wir uns als Einrichtung der außerschulischen Bildung und setzten uns mit der Bedeutung der Konvention für die Praxis auseinander. Der Begriff Inklusion betont in dieser Konvention die Gleichwertigkeit und Würde jedes Individuums, ohne dass dabei Normalität vorausgesetzt wird. Die Vielfalt selbst ist Norm. Gesellschaftliche Strukturen und Systeme müssen so verändert werden, dass sich alle auf eigene Art einbringen können und die volle gleichberechtigte und wirksame Teilhabe und Teilgabe aller garantiert ist.

Teilhabe zu fordern heißt, Strukturen und Haltungen in Frage zu stellen und muss in der Konsequenz bedeuten, auch “Teilgabe” zu fordern, um Veränderungen zu zulassen.

Wir entschieden uns, uns einem selbstgesteuerten und selbstbestimmten Qualitätsprozess zur Frage der Inklusion zu stellen. Der Prozess war auf zwei Jahre angelegt und hat inzwischen erste Ergebnisse gebracht. Er verfolgte Ziele auf zwei Ebenen: Es ging einerseits um die Weiterentwicklung der Einrichtung, einen sogenannten Organisationsentwicklungsprozess, und andererseits um die Klärung der Frage, was die inhaltliche Ausgestaltung des Konzepts der Inklusion bezogen auf den Bereich der außerschulischen Jugendbildung bedeutet und welche Chancen und Herausforderungen darin liegen. Eine besondere Chance und auch besondere Herausforderung bestand bei unserem Prozess darin, dass es weder formale noch inhaltliche Vorgaben gab. Nach einer ersten Zieldiskussion war klar, dass das ganze Vorhaben nur multiperspektivisch, bezogen auf Strukturen, Haltungen und Handlungen (Bildungsprozessgestaltung), sinnvoll umgesetzt werden kann.

Die Umsetzung

Zu Beginn des Prozesses wurden Erwartungen und Befürchtungen, das (vorläufige) Verständnis von Inklusion und die Zielstellungen des Prozesses sowie die Arbeitsweisen und Zuständigkeiten geklärt. Eine Steuerungsrunde für den Gesamtprozess wurde festgelegt. Alle Akteure rund um die Bildungsstätte (angefangen beim Vorstand, den Mitgliedern, allen Mitarbeiter*innen, dem Honorarteam, die Kooperationspartner*innen, Gästen, Architekt*innen etc.) wurden durch unterschiedliche Angebote an Diskussionsrunden und AGs zur konkreten praktischen Umsetzung in den Gesamtprozess einbezogen.

Als Auftakt fand eine Tagesklausur gemeinsam mit den Bereichsleiter*innen aus allen Bereichen statt. Neben der grundlegenden Informationsvermittlung zu Inklusion und zum geplanten Prozess, wurden gemeinsam die relevanten Handlungsbereiche identifiziert, auf die sich der Inklusionsprozess beziehen soll und die drei Bereiche mit denen der Prozess starten soll festgelegt: Leitbild, „Willkommenskultur“ und Bildungskonzeption.

Für die 12 entstandenen relevanten Handlungsbereiche (Arbeitsbereiche) wurde nach und nach eine sogenannte „Planungsmatrix“ entwickelt. Diese beinhaltet: Wer ist zu beteiligen? Mit wem wird diskutiert (Externe, Expert*innen, Kooperationspartner*innen, Gäste etc.)? Um was geht es? Wie kann der Umsetzungsprozess gestaltet werden? Wozu das Ganze? Um was geht es uns (Ziel)? Wann und wo wird weiterdiskutiert, bzw. mit der Umsetzung begonnen (Zeit-, Raum- und Ressourcenfrage). Mit dieser Planungsmatrix wurden dann konkrete Projekte entwickelt. Eine solche Matrix entstand für folgende Arbeitsbereiche:

− Leitbild
− Seminar- bzw. Bildungskonzepte
− „Willkommenskultur“ – heißt: Gäste- bzw. Teilnehmendenbetreuung
− Freizeitbereich
− Bauliche Maßnahmen a) Hochbau/Haus; b) Ausstattung; c) Außenbereich; d) Hausleitsystem
− Personalentwicklung
− freie Mitarbeiter*innen/Honorardozent*innen
− Ernährung
− Öffentlichkeitsarbeit bzw. Kommunikation nach Außen
− Regionalentwicklung
− Jugendpolitisches Umfeld
− Spezifische Bedürfnisse im Blick

Welche Ergebnisse sind bisher erarbeitet worden?

Aus der jeweiligen Matrix heraus entstanden mit den unterschiedlichsten Beteiligten konkrete Maßnahmen/Projekte für die einzelnen Bereiche, die in einer Umsetzungsliste gesammelt wurden. Diese Gesamtumsetzungsplanung umfasst konkrete Maßnahmebeschreibungen, für deren Realisierung eine Steuerungsgruppe verantwortlich ist, die bereits die Vielzahl der Maßnahmen und Projekte in eine konkrete Planung kurzfristig (1-2 Jahre), mittelfristig (3-5 Jahre) und langfristig überführt und bereits erste Umsetzungsschritte eingeleitet hat. Einige Projekte mussten auch durch externe Expert*innen umgesetzt werden, wie z. B. das Leitbild in einfache Sprache zu übersetzen.

Für die inhaltliche Bildungsarbeit der Einrichtung wurden z. B. anhand einer Mind Map relevante Aspekte der Konzeption der Bildungsstätte wie Ziele, Zielgruppen, Inhalte, Methoden und Rahmenbedingungen sowie die unter dem Gesichtspunkt der Inklusion notwendigen Erweiterungen bzw. Veränderungen thematisiert. Dabei wurde deutlich, dass der mit Inklusion verbundene Perspektivwechsel vor allem zu einer Erweiterung der Zielbeschreibung außerschulischer politischer Bildung führt. Für den Bildungsbereich wurden insgesamt fünf Projekte festgehalten: Entwicklung inklusiver Seminarmethoden; Dokumentation inklusiver „Energizer“; Durchführung von Fortbildungen für Honorarmitarbeitende; Entwicklung erweiterter Kooperation bei der geplanten Schulentwicklung hin zu einer inklusiven Schule und die Durchführung eines Projekts zur Menschenrechtsbildung im Sinne eines historisch-kritischen Menschenrechtsverständnisses.

In anderen Bereichen wurde deutlich, dass es sowohl um punktuelle Nachjustierungen, wie z. B. bei der Gestaltung einer barrierefreien Homepage, der Entwicklung eines digital abrufbaren Informationsservice zum Haus, aber auch der Forderung eines Mobilitätskonzepts für die Region etc. geht. Inklusion, die Einbeziehung aller, bedeutet vor allem, viele kleine Projekte auf den Weg zu bringen, aber auch den Baubereich betreffend, größere Herausforderungen zu bewältigen. Sprich Stolperfallen wie überstehende Gullideckel auf dem Gelände abzusenken, Feldsteine als Gehwegbefestigung zu vermeiden, Handläufe an Treppen anzubringen, aber auch groß zu denken, und zum Beispiel einen Altbau mit Rampe oder Fahrstühlen auszustatten.

Zum Abschluss des Prozesses erfolgten zwei Aktivitäten zur kritischen Betrachtung der bis dahin erarbeiteten Ergebnisse. Zum einen sollte als letzter Arbeitsbereich der Blick auf spezifische Bedürfnisse einzelner Zielgruppen gerichtet werden. Dabei sollte der Frage nachgegangen werden, ob deren Bedürfnisse und Interessen bei der Entwicklung von Projekten auch Berücksichtigung gefunden haben. Damit wird der Gefahr entgegengewirkt, dass bei der Analyse einzelner Aufgabenbereiche nicht die eigentlichen Adressat*innen aus dem Blick geraten. Zum anderen wurden externe Expert*innen für Coachings gewonnen. So soll erreicht werden, dass Ergebnisse aus der Wahrnehmung von Menschen mit speziellen Bedürfnissen in den Prozess integriert werden. Dabei ist zu beachten, dass die Gefahr der Konstruktion von Gruppen und der Zuschreibung bestimmter Merkmale und Bedürfnisse besteht. Dies muss kritisch reflektiert werden. Zum Beispiel hielten wir die Ausgabe von Tabletts zum Transport von Speisen vom Buffet zum Tisch im Speisesaal für eine gute Idee. Sowohl von Kindern, Senior*innen als auch Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung kam hier die Rückmeldung: nicht hilfreich, zudem zu eng auf den Tischen. Ebenso diskutierten wir die Einführung von Unisextoiletten. Auch hier kam die Rückmeldung von mehreren Gruppen, dass sie dies nicht für gut befinden. Somit wurde hier der Kompromiss erarbeitet, 1/3 der öffentlichen Toiletten als unisex auszuweisen, die anderen in ihrer Ausschilderung zu belassen.
Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Es war bereits absehbar, dass von rd. 150 Maßnahmen und Projekten auszugehen ist, von denen die meisten (Zielmarge 70 %) in den nächsten 5 Jahren realisiert werden können. Der notwendige Ressourceneinsatz (personell, finanziell, Komplexität[?!]) ist dabei sehr unterschiedlich. Für eine Mehrzahl der Maßnahmen gilt, dass diese ohne besonders großen finanziellen Aufwand umsetzbar sind.

Die vielleicht wichtigste Schlussfolgerung ist, dass sich das zu Beginn entwickelte Verständnis von Inklusion als tragfähig erwiesen hat. Inklusion muss als Prozess gedacht und organisiert werden. Zugleich bietet das menschenrechtliche Konzept der Inklusion aber auch die Grundlage für zentrale Leitbilder und Visionen: Die Anerkennung von Unterschiedlichkeit und die volle und wirksame Teilhabe und Teilgabe aller. An dieser Vision können sich Veränderungsprozesse orientieren.

Eine weitere Schlussfolgerung im Laufe der Arbeitsschritte war, dass die Qualitätsentwicklung letztendlich allen zu Gute kommt und, um dem Anspruch von Inklusion zu genügen, auch allen zu Gute kommen muss. Das Kernanliegen von Inklusion ist, die Gegenüberstellung von Mehrheit und Minderheit aufzulösen. Es gilt ein Verständnis von Unterschiedlichkeit zu etablieren, bei dem Verschiedenheit die Norm ist. So können keine defizitär bestimmten Kriterien zur Auswahl bestimmter Zielgruppen oder Fragestellungen mehr herangezogen werden. Dies würde dem Grundgedanken des ganzen Vorhabens zuwiderlaufen. Dann kann aber auch generell keine Fragestellung und kein Arbeitsbereich aus dem Prozess ausgeklammert werden, sonst würden wir der Vielfalt menschlichen Lebens nicht gerecht werden. Es bleibt nur der Weg, den Gegenstandsbereich so eng und klar umgrenzt zu beschreiben, dass ein realistisches Vorhaben entsteht. Im konkreten Fall war die Festlegung auf eine Einrichtung der außerschulischen politischen Jugendbildung eine sinnvolle Grenzziehung.

Der Prozess der Inklusion ist nicht widerspruchsfrei und kann es auch grundsätzlich gar nicht sein. Widersprüche und Paradoxien müssen ausgehalten und produktiv gestaltet werden. Ob dies gelingt, werden die noch folgenden Umsetzungsschritte in der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein zeigen.

Tim Scholz und Christine Reich, Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein