Wie die „Neue Rechte“ die soziale Frage diskutiert

Die soziale Frage, also die Frage von sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Gleichheit und Ungleichheit, betrifft zentrale Probleme des Kapitalismus. Nicht nur die politische Linke, sondern auch rechte Akteure befassen sich mit diesem Thema. Die „Neue Rechte“ versucht auch linke Analysen und Begriffe für eigene Politikansätze nutzbar 1 zu machen.

Pro und Contra Umverteilung

Ein Beispiel für diese Diskurspiraterie ist ein Artikel des Autors Benedikt Kaiser auf der Website der neurechten Zeitschrift „Sezession“. Kaiser stellt die These auf, dass die soziale Frage viel zu lange vernachlässigt wurde und daher die Chance besteht, dieses Thema von rechts zu besetzen.

In seiner Argumentation vertritt Kaiser die Auffassung, dass der ärmere Teil des deutschen Volkes nicht nur von „ethnischer Verdrängung“ durch Zuwanderung betroffen sei, sondern sich mit den zugewanderten Menschen auch in Konkurrenz um knappe Ressourcen befinden würde. Zuwanderung – und damit sind in diesem Falle vor allem die Menschen, die vor Krieg, Vertreibung und Perspektivlosigkeit nach Europa fliehen gemeint – würde angeblich von wirtschaftlichen und politischen Eliten mit Unterstützung durch Linke vorangetrieben. Als Antwort auf die soziale Frage bezieht Kaiser sich auf den Vorschlag eines linken Soziologen, die Vermögenssteuer wieder einzuführen und Menschen nach ihrer Staatsbürgerschaft statt nach ihrem Wohnort zu besteuern.

Kaiser forderte also eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums – eine ursprünglich linke Idee. Entsprechend gab es von den Leser*innen nicht nur Beifall, sondern auch viele empörte Reaktionen: Es gäbe in Deutschland keine Armut, sondern lediglich „Luxusgüterrückstand“, Hartz IV sei ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ und Kaiser habe ein „gestörtes Verhältnis zu fundamentalen Prinzipien des Rechtsstaates, den privaten Eigentumsrechten“.

Auf derselben Website erschien eine Antwort auf Kaisers Artikel, der kritisierte, dass der Staat die falschen Aufgaben übernehme. Der Staat solle sich um Bereiche wie Sicherheit und Bildung kümmern, letzteres um junge Menschen zu Disziplin zu erziehen und bestimmte – konservative – Werte zu vermitteln. Aus der Sozialpolitik und aus der Wirtschaft hingegen soll der Staat sich heraushalten. Diese Vorstellung wird als „autoritärer Liberalismus“ bezeichnet und geht etwa auf den rechten Staatsrechtler Carl Schmitt zurück.

Linke Strategien für Rechte

Kaiser unterscheidet sich von anderen Vertreter*innen der „Neue Rechten“ auch dadurch, dass er offen Überlegungen zur Querfront 2 anstellt. Er sucht in linken Diskursen nach Anschlussmöglichkeiten für rechte Positionen. Ein Beispiel hierfür ist die Vorstellung, dass Eliten globale Migration anstoßen, um in Europa lebende Arbeiter*innen unter stärkeren Konkurrenzdruck zu setzen. Wenn Linke eine positive Haltung zu Geflüchteten kritisieren oder Antinationalismus für falsch halten, lässt sich eine Brücke zwischen beiden Positionen bauen.

Seine Ausführungen zum Kapitalismus sind allerdings widersprüchlich: An einer Stelle fordert er die „revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft“, an anderer unterscheidet er die Marktwirtschaft vom Kapitalismus, um an ihr festzuhalten. Weiter schreibt Kaiser dann, dass die Gesellschaft „auf Wettbewerb und offenen Markt nicht verzichten“ dürfe. Auf grundlegende Elemente linker Kapitalismusanalysen, wie die Kritik des Privateigentums an Produktionsmitteln oder die Frage, wer sich den erarbeiteten Mehrwert aneignet, geht er gar nicht ein. Auch die Rolle des Staates schätzt er anders als viele linke Analysen ein. Linke kritisieren den Staat, weil er die Stützpfeiler des kapitalistischen Systems absichert und es damit erst ermöglicht. Für Kaiser spielt das keine Rolle.

Das wirkt alles zunächst sehr unpassend und verworren. Es lässt sich allerdings erklären, wenn man Faschismus als eine Verbindung eines radikalen Nationalismus und einer rechten Antwort auf die soziale Frage versteht. Der Klassenkampf wäre im Sinne der Rechten nicht das Infrage stellen von Eigentumsverhältnissen, sondern das Ziel, das nationale Proletariat gegen den Liberalismus in Stellung zu bringen. Liberalismus gilt in dieser Strömung der politischen Rechten als Hauptfeind, da er nationale Unterschiede beseitigen würde.

Dieser Antiliberalismus ist ein gemeinsamer Nenner der verschiedenen Strömungen der Rechten. Grundsätzlich gehen völkische Rechte davon aus, dass sich Gesellschaften aufgrund von Abstammung in eine bestimmte Richtung entwickeln. Rechte sprechen von „Völkern“ deren Angehörige ganz bestimmte Eigenschaften verbindet. Man könne also auch vom „Wesen“ eines Volkes sprechen. Dazu gehöre auch eine bestimmte Art Wirtschaft zu betreiben. Ob ein Volk nun eine kapitalistische oder eine andere Wirtschaftsform hat, würde sich aus seinem Wesen und der daraus hervorgehenden Kultur entwickeln. Die Neue Rechte geht also davon aus, dass der Kapitalismus eigentlich keine Wirtschaftsordnung sei, sondern das Ergebnis einer bestimmten Mentalität. In Deutschland seien die falschen Eliten an der Macht. Diese seien zu stark vom Liberalismus beeinflusst, was dazu führe, dass die „wesenseigene“ Wirtschaftsform der Deutschen verschwunden sei. Statt Wettbewerb und Leistung würden nur noch gute Beziehungen zählen. Die Folge sei unter anderem, dass viele Deutsche nun Verhaltensweisen an den Tag legten, die nicht mehr ihrem Wesen entsprächen, also nicht „typisch deutsch“ seien.

Wie oben schon erklärt, lehnen viele Rechte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft ab. Der Staat soll nur den Rahmen setzen, negative Einflüsse von außen abwehren und nach innen für die richtige Gesinnung sorgen. Kaiser mag zwar die soziale Frage aufgreifen, aber eigentlich will er nichts als den nationalen Wettbewerbsstaat mit ein paar staatssozialistischen Elementen. Es geht ihm an keiner Stelle um die materiellen Grundlagen dieser Frage.

Spannend ist diese Debatte in der Neuen Rechten vor allem auch deshalb, weil sie auch die AfD beeinflusst und diese als parteipolitischer Arm gelten kann. Auch wenn die AfD insgesamt eher neoliberal ist, bedient sie verschiedene Wirtschaftspolitiken parallel. Sie inszeniert sich unter anderem gern als „Anwalt der kleinen Leute“, eine „Alternative der Antikapitalisten“, wie die Frankfurter Allgemeine schrieb, ist sie aber nicht. Das zeigt schon Kaisers fehlgeschlagener Versuch, die Vermögenssteuer zum Thema zu machen. Auch Björn Höcke, dem Parteivorsitzenden aus Thüringen, der unter dem Namen Landolf Ladig den „zinsbasierten Kapitalismus“ kritisiert haben soll und als Vertreter einer „völkischen Postwachstumsideologie“ bezeichnet wurde, hat dazu mehrmals eine klare Aussage getroffen: Die „neue deutsche soziale Frage“ sei keine Frage der Verteilung von oben nach unten, sondern eine von innen nach außen.

Michael Bartels, ist Sozialwissenschaftler und publiziert zur Extremen Rechten

Der Beitrag erschien zuerst am 17.10.2017 in der Ausgabe 631 der Zeitung „analyse & kritik“ und wurde für diese Ausgabe der aj überarbeitet.

  1. Dies wird auch als Diskurspiraterie bezeichnet. Mit dem Begriff wird eine Strategie beschrieben, die Themen des politischen Gegners besetzt und im eigenen Sinne uminterpretiert.
  2. Der Begriff „Querfront“ stammt aus der Weimarer Republik und bezeichnet eine rechtsradikale Bündnisstrategie, die Gemeinsamkeiten zwischen Linken und Rechten hervorhebt und eine Machtübernahme zum Ziel hatte. Heute wird er verwendet um den gemeinsamen Aktivismus von rechts mit nicht-rechten oder gar linken Aktivist*innen zu bezeichnen. Themen sind hierbei sowas wie Globalisierungskritik, Friedensdemonstrationen oder Tierschutz. Es geht allerdings nicht um Demokratie und gleiche Rechte für alle, sondern – wie immer – um Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung.