NS in den Köpfen

Der NSU und ein ausgebliebener Paradigmenwechsel in der deutschen Erinnerungskultur

Demonstration gegen Rechtsextremismus und als Teichen der Solidarität mit den Angehörigen der NSU-Opfer vor Beginn des NSU-Prozesses im April 2013 am Stachus in München. Foto: Linksfraktion Flickr

Die Mordserie des NSU begann am 9. September 2000 mit der Erschießung von Enver Şimşek in Nürnberg. Die Rechtsterrorist*innen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ermordeten in den darauffolgenden Jahren acht weitere Personen aus rassistischen Motiven, sowie eine Polizistin. Zahlreiche weitere Menschen wurden verletzt und traumatisiert durch Nagelbomben- und Sprengstoffanschläge, zudem werden dem Trio mindestens 15 bewaffnete Raubüberfälle zugeschrieben. Erst am 04. November 2011, als zwei der Täter mutmaßlich Selbstmord begingen und in ihrem ausgebrannten Wohnmobil gefunden wurden, begann die öffentliche Aufklärung der NSU-Morde. Die verbliebene Täterin versuchte zunächst Beweise in der Wohnung des NSU durch einen Brandbombenanschlag zu vernichten und reiste dann einige Tage durch Deutschland, bevor sie sich schließlich der Polizei stellte.

Der Albtraum der Opfer-Täter*innen-Umkehr

Für die Familien der Opfer endete ein jahrelanger Albtraum der Verdächtigungen, Unterstellungen und Verhöre. Trotz ihrer bereits früh formulierten Verdächtigungen, hinter den Anschlägen könnten Nazis stecken, wurde kaum in diese Richtung ermittelt. Stattdessen wurden die Verbrechen rassistisch als „Döner-Morde“ tituliert, man unterstellte den Ermordeten mafiöse Verbindungen und illegale Machenschaften oder Aktivitäten in der PKK und verhörte die trauernden Angehörigen in einer teils traumatisierenden Art und Weise.

Bis heute ist vermutlich noch nicht alles im Kontext NSU aufgedeckt: Hunderte Personen sollen die Täter*innen unterstützt oder zumindest gedeckt haben, viele davon aus der rechten Szene. Neben Beate Zschäpe, die lebenslänglich in Haft muss, wurden bisher lediglich vier weitere Personen verurteilt, zum Teil sind sie durch Anrechnung der U-Haft bereits wieder auf freiem Fuß.

Allerdings gibt es auch nicht unerhebliche Vorwürfe gegen Mitarbeiter*innen des Verfassungsschutzes. Dieser wusste vermutlich besser als öffentlich bekannt über die Machenschaften des NSU Bescheid und hatte in seinem Umfeld „V-Männer“1 postiert. Es liegt der begründete Verdacht nahe, dass nicht nur Taten des NSU aus Mitteln des Verfassungsschutzes finanziert wurden, sondern, dass dieser sogar über geplante Morde Bescheid gewusst haben könnte. Bekanntestes Beispiel ist wohl der Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas Temme, der während des Mordes an Halit Yozgat am Tatort, einem Kasseler Internetcafé, anwesend war und sich hinterher nicht freiwillig als Zeuge meldete. Er gab später an, die Leiche hinter der Kasse nicht gesehen und auch vorher nichts mitbekommen zu haben. Nach Auffliegen des Netzwerkes wurden zudem mutwillig relevante Akten geschreddert und wichtige Informationen durch den Verfassungsschutz zurückgehalten, manche sprechen sogar von einem verdächtigen Zeug*innensterben im Umfeld der späteren Ermittlungen. Der Übergang von tatsächlichen Verdeckungstaten durch Verantwortliche des VS zu bloßen Verschwörungstheorien ist so fließend, dass es schwerfällt, zu erkennen, wie es gewesen sein könnte.

Die Zäsur in der Erinnerung an Opfer rechter Gewalt ist ausgeblieben

Was bleibt, ist das Wissen darum, dass der NSU nicht zu dritt war, dass es viele Menschen gab, die Morde an Menschen, die sie als „fremd“ einstuften, als legitimes Mittel ansahen und bewusst Unterstützungsleistungen erbrachten. Es bleibt das Wissen darüber, dass eine Mordserie an Migrant*innen, die sieben Jahre andauerte und gegen die 2006 bereits durch die Angehörigen initiierte Schweigemärsche unter dem Motto „Kein 10. Opfer!“ marschierten, lange Zeit nicht aufgeklärt wurde, vermutlich auch, weil kaum in die richtige Richtung ermittelt wurde. Heute, mehr als zehn Jahre nach der letzten Tat, gibt es noch immer keine vollständige Aufklärung über die Zusammenhänge, die den NSU stützten. Und es gibt nur eine schwache Erinnerungskultur. Zum Abschluss des Prozesses gegen Zschäpe gingen unter dem Motto „Kein Schlussstrich“ vor allem Linke und Migrant*innenselbstorganisationen auf die Straße, mehr als ein paar Tausend kamen in keiner Stadt zusammen. Zu den Todestagen der Opfer gibt es jährliche Gedenkmärsche in ihren Heimatstädten, diese meist noch wesentlich schlechter besucht.

Eine wirkliche Zäsur in der Gedenkkultur sieht anders aus. Nicht selten bekommt man die Phrase zu hören, der Holocaust sei so lange her, dass eine Erinnerung daran für junge Menschen zu abstrakt sei. Keinesfalls darf an dieser Stelle der Holocaust, als Akt unvergleichlicher, kollektiver menschlicher Grausamkeit, zu Vergleichszwecken irgendeiner Art herangezogen werden. Aber am Beispiel des NSU wird deutlich, dass es sich hier um eine Ausrede handelt, die gerade so recht kommt wie irgendeine andere, um das Wissen über begangenes Unrecht nicht zur Verhinderung neuer Grausamkeiten heranzuziehen. Denn auch rechtsterroristische Taten wie die NSU-Morde oder das Attentat auf Utøya werden kaum herangezogen, um auf die Gefahren von rechtem Gedankengut für die Demokratie hinzuweisen. Auch der Opfer wird nur in sehr überschaubarem Rahmen gedacht. Dabei stellen diese beiden Mordserien eine neue Qualität rechter Gewalt dar, die wenig beleuchtet wird: Es waren keine Zufallsopfer. Die Getöteten wurden von ihren Mörder*innen mit Bedacht ausgesucht, die Taten von langer Hand geplant, in vollem Wissen um die Gefahr, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dies macht sie nicht schrecklicher als die Einzelmorde an Migrant*innen, Linken und Minderheiten, aber es zeigt, dass sie systematisch erfolgten und teils nur durch ihre strukturelle Unterstützung möglich waren.

Hier wäre ein Paradigmenwechsel notwendig gewesen, der ausgeblieben ist: Eine grundlegende Aufarbeitung solcher Taten und warum sie möglich waren, muss von allen verantwortlichen Strukturen, aber auch von unabhängigen Stellen vollumfänglich angegangen wäre. Rassistische Anschläge wie die in Hoyerswerda,  Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen erfahren nun, nachdem sie über zwei Jahrzehnte her sind, noch weniger Erinnerung und Aufmerksamkeit als die des NSU, die Überlebenden und Angehörigen sind oft schwer traumatisiert und erhalten wenig Anerkennung ihrer Leidensgeschichten. Zum Teil wurden hier Überlebende schwerer Übergriffe kurz nach den Geschehnissen abgeschoben. Eine ähnliche Situation ergibt sich für nicht endgültig aufgeklärte rassistische Morde wie dem an Oury Jalloh. Rassismus als gesellschaftliches Problem ernst zu nehmen, bedeutet, die eigene Verstrickung darin anzuerkennen und, von staatlicher Seite, die Verantwortung für eigene Anteile daran zu übernehmen.

Es braucht eine schulische wie außerschulische Bildungsarbeit, die sich nicht fälschlich neutral gibt, sondern Stellung bezieht gegen Menschenfeindlichkeit, sowie ein würdiges Gedenken an die Opfer rechter Gewalt als Grundvoraussetzung, um weiteren Morden aus Hass präventiv zu begegnen. Die besondere Herausforderung dabei ergibt sich daraus, Taten wie diesen würdig und ernsthaft zu gedenken und sie in Bildungsprozessen in Verbindung zu setzen mit Rassismus und Menschenverachtung als gesellschaftlicher Struktur, die es zu bekämpfen gilt.

Jana Herrmann, BZ Westliches Westfalen


  1. „V-Mann“: Vertrauensperson der Polizei oder des Verfassungsschutzes, die verdeckt personenbezogene Daten sammelt, im Gegensatz zu verdeckten Ermittler*innen, die Beamt*innen sind, werden hier Personen direkt aus einer Szene oder einem Milieu angeworben, um gegen Geld Informationen zu sammeln. Das bedeutet, um in der rechten Szene zu ermitteln, werden Nazis vom Verfassungsschutz bezahlt.