Wohnraumfrage als soziale Frage

Wohnblock im Neubaugebiet Berlin-Marzahn 1987

Wir leben in einer Gesellschaft, die aus dem Menschenrecht auf Wohnraum eine Ware gemacht hat. Dies führt dazu, dass Wohnraumpolitik auf Seiten von Vermieter*innen der Logik kapitalistischer Verwertung und der Kapitalakkumulation unterliegt. Gerade urbaner Wohnraum ist gefragter denn je. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als dass die moderne Stadt per se ein Produkt von Industrialisierung und Kapitalismus ist. Erst die Konzentration von Kapital und damit einhergehend wirtschaftlicher Macht in Ballungszentren machte Urbanisierung und Landflucht notwendig, denn fast nur noch in diesen Zentren war es Arbeiter*innen möglich, ihre Grundbedürfnisse zu stillen: „Zum Leben aber gehört vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere.“1 Dass notwendige Grundbedürfnisse zur Ware erklärt werden, ist zwar nichts Neues, doch der Immobilienmarkt erlebt bundesweit eine so bisher nicht dagewesene Inflation. Während der urbane Wohnraum in der Zeit der Industrialisierung notwendiger Anziehungspunkt für Arbeiter*innen war, haben sich Städte unlängst zu Zentren des Dienstleistungs- und Informationssektors entwickelt. Hinzu kommt eine urbane Kreativ- und Kulturszene und die Ansiedlung neuer marktwirtschaftlicher Modelle, etwa Start-ups. Und somit werden Städte erneut Zentren für die Anhäufung von Kapital. Mit ähnlichen Folgen wie bereits vor zwei Jahrhunderten: grassierende Landflucht, urbane Überbevölkerung und Wohnraummangel. Anders als zu Beginn der Industrialisierung ist der Wohnraum jedoch nicht notwendige Voraussetzung für Kapitalakkumulation, sondern selber Objekt der Erwirtschaftung finanziellen Mehrwerts. Daher hat sich der Wohnungsmarkt zu einer vorzüglichen Einnahmequelle entwickelt, da Wohnraum nicht nur eine Ware, sondern auch ein Produktionsmittel darstellt.

Diskurs und Dialog

Grund genug, Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnraum zumindest anzudenken. Und genau das geschieht derzeit nicht nur im Berliner Senat, sondern bundesweit in progressiven „Recht auf Stadt“-Gruppen, Mieter*inneninitiativen und auch innerhalb der radikalen Linken. Bisher mit einigem Erfolg: Einige politische und parlamentarische Akteur*innen, allen voran der rot-rot-grüne Senat in Berlin, zeigen einiges Interesse an einer sozialverträglichen Wohnungspolitik. Gleichzeitig fabulieren die Unionsparteien und die FDP beim Lautwerden von Forderungen nach der Enteignung von Immobilienkonzernen das Gespenst des Kommunismus herbei. Zwar werden bisher keine der radikaleren Forderungen erfüllt, jedoch ist eine deutliche Verschiebung des wohnungspolitischen Diskurses hin zu alternativen Modellen und Denkweisen zu erkennen. Doch bundesweite Reaktionen bleiben noch aus, die Zahl der Sozialwohnungen sank in den letzten 30 Jahren um mehr als 60 Prozent, durch die geplante Mittelkürzung der Bundesregierung wird 2020 eine Reduktion um 62,7 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 erreicht sein. Dieser Entwicklung will die derzeitige große Koalition keinen – oder nur geringen – Einhalt gebieten, im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und SPD lediglich die Beibehaltung des Bestands an Sozialwohnungen beschlossen. Statt einer tiefgreifenden Förderung bezahlbaren Wohnraums liegt der Fokus der Bundesregierung auf der Förderung von Eigenheimen, brauchbare Politik für Mieter*innen sucht man indes vergebens. Mit verheerenden Folgen für Mieter*innen in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Denn während innerstädtische Bereiche neben Arbeitsplätzen und wirtschaftlicher Attraktivität vor allem durch hohe Mietspiegel geprägt sind, bleibt Menschen mit niedrigen Löhnen meist nur die vorstädtische Peripherie. Darüber hinaus wirken sich lange Arbeitswege oder fehlende kulturelle oder freizeitlicher Infrastruktur am zentrumsfernen Wohnort negativ auf die Lebensqualität aus. 

Wohnungspolitik selber machen

Da von staatlicher Seite nur Symptombekämpfung zu erwarten ist, haben progressive Akteur*innen die Gestaltung der – zumeist lokalen – Wohnraumgestaltung und -nutzung oftmals bereits selbst in die Hand genommen. Durch Nachbarschaftstreffpunkte werden Menschen aus der Anonymität der Großstadt geholt, selbst organisierte kulturelle Angebote gleichen das Fehlen an staatlicher oder öffentlich geförderter Kultur aus oder Gemeinschaftsgärten sorgen für eine ausreichende Naherholung auch in den städtischen Randgebieten. Dass die Bereitstellung alternativer Infrastruktur nichts am Hauptproblemen der Wohnungspolitik, nämlich steigenden Mieten und zu wenig bezahlbarem Wohnraum ändert, ist einigen Aktivist*innen sehr wohl bewusst. Sie greifen zu härteren Mitteln und übertreten das Gesetz, indem sie Häuser besetzen. 

Was die meisten Menschen aus Städten mit akuter Wohnungsnot, etwa Hamburg oder Berlin, kennen, hat auch andernorts Tradition. In Bochum etwa wurde seit den 1980er Jahren von der Vorortvilla über alte Zechengebäude bis zum ganzen Wohnsiedlungen so gut wie alles besetzt, um die eklatanten Fehler von Politik und Stadtplanung auszugleichen. Seit der Eröffnung der Ruhr-Universität in den 1960er Jahren erlebte die einstige Bergbaustadt einen nachweisbaren Bevölkerungszuwachs und einen dringenden Bedarf an bezahlbarem Wohnraum. Weder Stadt, noch akademisches Förderungswerk kamen dieser Mehrbelastung des lokalen Wohnungsangebots ausreichend nach. Dies änderte sich erst in den späten 1990er Jahren und besiegelte vorerst das Ende der Bochumer Hausbesetzer*innenszene. Zumindest bis zum 19. Mai 2017. An diesem Tag besetzten einige Aktivist*innen das zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Jahren leerstehende Haus Herner Straße 131. Doch nicht etwa aufgrund persönlicher Wohnungsnot, sondern um die Kommunalpolitik auf Leerstand, allgemeinen Wohnraummangel, Gentrifizierung und fehlende wohnortnahe Kulturangebote aufmerksam zu machen. Dementsprechend hatte niemand der Besetzer*innen den Anspruch, die eigene Bleibe auf Dauer in der Herner Straße 131 einzurichten; stattdessen gab es Nachbarschaftscafés, Konzerte, Bastel- und Kreativworkshops und andere Angebote für Interessierte. Neben einem Hauch Hausbesetzer*innenromantik lag vor allem der Wille in der Luft, etwas zu verändern. Das war auch Stadt und Polizei bewusst, Räumungsversuche blieben aus – Dialogangebote allerdings auch. Die Stadtspitze hüllte sich mehr als sieben Wochen lang in Schweigen, einzig Vertreter*innen der Linkspartei und der Grünen  ließen sich am besetzten Haus blicken. Doch dass die erste Bochumer Besetzung seit mehr als 25 Jahren den politischen Diskurs in Bochum entfachen konnte, ist an den Reaktionen im Stadtrat zu erkennen gewesen. Plötzlich musste sich auch der SPD-Oberbürgermeister mit  dem bisher ignorierten Thema der mehr als 7.000 ungenutzten Wohnungen und steigenden Mieten auseinandersetzen. Die Besetzer*innen konnten Nachbarschaftsinitiativen, Mieter*innenvereinigungen und progressive Stadtratsmitglieder auf ihre Seite ziehen und so öffentlichen Druck aufbauen, um drängende Probleme sichtbar zu machen. Zwar konnten die Pläne für die Herner Straße 131, etwa Notschlafstellen für bedürftige Menschen, Wohnraum weit unter dem Mietspiegel und ein selbstverwaltetes Wohn- und Nachbarschaftszentrum, nicht realisiert werden, doch seit dem Sommer 2017 wird in Bochum über ein drängendes soziales Problem gesprochen – und die Verantwortlichen müssen reagieren.

Was tun?

Natürlich hat nicht jede*r die Ressourcen und Möglichkeiten oder schlicht die Lust, ein Haus zu besetzen, doch mangelnder oder nicht bezahlbarer Wohnraum geht alle an, egal ob Mieter*in oder wohnhaft im Eigenheim. Denn Ungleichheit auf dem Wohnungsmarkt sorgt für Ungleichheit in der Gesellschaft. Wenn die einen in Luxus wohnen, während für die anderen Wohnen zum Luxus wird, stehen wir vor einem Problem, das der Markt weder regeln kann noch will. Wenn die Wohnraumfrage erneut zur sozialen Frage wird, wird der Soziale Frieden in Gefahr sein. Weil Wohnen ein Menschenrecht ist, darf es nicht weiter zur Ware transformiert werden. Bei der Gestaltung neuer Konzepte und Ideen zum gemeinschaftlichen und solidarischen Wohnen der Zukunft sind wir alle gefragt und wir alle haben die Möglichkeit, positive Beispiele vorzuleben, Druck auf Entscheidungsträger*innen auszuüben und eine solidarische Stadt der Zukunft gemeinsam zu gestalten. Konkret heißt das: Wir müssen uns für den freien Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, wohnortnahen Freizeit- und Kulturangeboten und nachbarschaftliche Solidarität stark machen und uns organisieren, Hilfe leisten und Ansprechpartner*in sein für Menschen, die schon heute am Wohnungsmarkt geringere oder keine Chancen haben. Ohne Solidarität gewinnt der Markt, und eine Stadt für Wohlhabende ist keine Stadt für alle. 

Justin Mantoan, UB Bochum

  1. MEW3, S. 28