Die imaginären Blumen in der Kette und das Ende der DDR

Angeblich “sozialistische Bruderhilfe”, in Wahrheit Ausbeutung und Segregation – Vertragsarbeiter in der DDR / Bild: Bundesarchiv, Bild 183-1984-0712-010 / Rainer Weisflog / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de

Über die Auswirkungen der „Wende“ und die Unsicherheit der Nachwendejahre wird bei der Erörterung des „inneren Stands der deutschen Einheit“ ja häufig geredet. Die Gutwilligen haben Mitleid, die Böswilligen sehen bloß „Jammer-Ossis“. Beide Ansichten erklären jedoch nichts. Die erste läuft zudem Gefahr, den Rechtsradikalismus und seine Gewalt nach 1990 zu relativieren („Er ist halt arbeitslos und ohne Perspektive geht er gerne mal auf Schwarze los. Man muss sich kümmern, man muss das akzeptieren, bei so viel Krise kann man schon einmal den Kopf verlieren.“ – Egotronic). Der zweiten erscheint es als Verrücktheit, dass sich die Ostdeutschen nicht permanent über die neue „Freiheit“ freuen – genauso verrückt wie das Nebeneinander von utopischem Beginn und dumpf-nationalistischem Ergebnis der Jahre ab 1989 (siehe auch Artikel “Der kurze Herbst der Utopie” auf Seite 2). Es erscheint mir daher hilfreicher, auf die „Wende“ der Wirtschaftsform zu schauen, also auf den Übergang von Staatssozialismus zu Kapitalismus. 

Ideologiekritik im Staatssozialismus

An die Stelle der unbewussten Herrschaft des Marktes setzt der Staatssozialismus die bewusste Herrschaft des Apparats – und führt damit zugleich zu Emanzipation und Autoritätsdenken. Während er die Ausbeutung im Westen deutlich sichtbar macht und damit auch die Notwendigkeit des Sozialismus, widerlegt er dessen praktische Möglichkeit jeden Tag aufs Neue. Beispielsweise wird noch deutlicher, dass der Profit der einzige Antrieb der kapitalistischen Produktion ist, wenn man vom Standpunkt der DDR aus schaut, in der der Arbeitstag viel weniger dicht war, die Produktionsmittel auch für private Zwecke und Projekte genutzt werden konnten und viel mehr Kontakt und Austausch mit den Kolleg*innen möglich war. Und dennoch war der Lebensstandard im Westen höher. Die DDR erklärt den Internationalismus der Arbeiterklasse zum Dreh- und Angelpunkt und kritisiert den in Staatsgrenzen denkenden Westen – was angesichts der offenkundigen Unvernunft von Staatsgrenzen ja auch richtig ist. Und doch wird der*die Einzelne im Staatssozialismus sogar noch mehr zum bloßen Rädchen im staatlichen Getriebe degradiert und das geringste Anzeichen von (vermeintlicher) Staatsfeindlichkeit kann in den Knast führen. Der Staatssozialismus enthüllt die Sinnlosigkeit des westlichen Konsums, setzt ihm aber nicht wahren Genuss und wahre Nützlichkeit entgegen, sondern bloß den Mangel. Der Schrecken der Arbeitslosigkeit und seine Sinnlosigkeit werden noch deutlicher, wenn jeder einen Job hat – und doch wurde das “Recht auf Arbeit” in der DDR bloß zum Arbeitszwang. 

Der Staatssozialismus hat so „die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt“, bloß „damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage“ (Marx).

Kein Sinn für Widersprüche

So betrachtet erscheint es fast zwangsläufig, dass 1989/90 keine liberalen Staatsbürger aus den meisten DDR-Bürgern werden konnten. Die liberale Weltanschauung war zu gründlich als Unwahrheit enttarnt. Aber es gab eben auch (fast) keine positiven Anknüpfungspunkte im Staatssozialismus, aus denen der “wirkliche” Sozialismus hätte entwickelt werden können. Wie sollte ein Zusammenleben ohne Staat und Herrschaft aussehen, wie eine Wirtschaft ohne Markt funktionieren? Trotz 40 Jahren „Sozialismus“ war man der Antwort auf diese Fragen ja kein Stück nähergekommen.

Scheidet die halbgare, inkonsequente Gesellschaftsform der alten BRD für die DDR-Bürger*innen also weitgehend aus, verbleiben als Alternativen eben nur noch, entweder den Sozialismus Wirklichkeit werden zu lassen oder den als Herrschaft und Unvernunft erkannten Kapitalismus dennoch zu bejahen. Das Erste ist bekanntlich nicht passiert, aber für das Zweite bedeutet nichts anderes, als sich selbst das Rückgrat zu brechen. 

Muss man jeden Tag auf Arbeit, ohne sich einreden zu können, dass das (auch) Selbstverwirklichung sei, bringt man Menschen, die nicht arbeiten können oder wollen, wahrscheinlich eher Unverständnis als Härte entgegen – “da muss man halt durch”. Erkennt man die Ausbeutung als solche, hat sich aber 1989 gesellschaftlich-kollektiv dennoch aktiv für den Kapitalismus entschieden, bleibt für Rücksicht kein Raum mehr: warum sollte es den anderen weniger schlecht gehen als einem selbst? Genauso ist es mit dem Staat: Sieht man in ihm den Garanten der Freiheit (schließlich kommen seine Gesetze einem selbst ja auch oft zugute und schützen eine*n vor den krassesten Auswirkungen des Marktes), scheint selbst für Subversion und Widerständigkeit Platz zu sein. Wurden die Grenzen dieser innerkapitalistischen Widerständigkeit und Freiheit jedoch in aller Deutlichkeit aufgezeigt, weil schließlich nicht jede*r 1989/90 „Zecke“ oder Marx-lesender Langzeit-Student werden konnte, blickt man vielleicht mit weniger Rücksicht auf diejenigen, die von den Resten der Freiheit tatsächlich oder vermeintlich Gebrauch machen.

Diese Betrachtung erscheint mir hilfreicher als die Alternative zwischen Mitleid oder Herablassung. Aber anders als diese setzt sie eine Haltung gegen Kapitalismus und Staatssozialismus voraus, was der Grund sein könnte, sich lieber auf die Nachwendejahre zu fokussieren und das Leben der Ossis damit erst 1989 beginnen zu lassen.

Jan, LV Thüringen