Ein kurzer Herbst der Utopie: Die gescheiterte Revolution von 1989

Wahlkampf: Vereinigte Linke und Marxistische Partei Die Nelken. Ohne Unterstützung aus dem Westen. ///
Bundesarchiv, Bild 183-1990-0311-013 / Weisflog, Rainer / CC-BY-SA 3.0

Der Medienrummel um den 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer fiel erwartungsgemäß überschwänglich aus. Eindrucksvolle Bilder von Deutschen, die sich voller Freudentränen in den Armen lagen, einprägsame Erinnerungen und natürlich allerlei Anekdoten aus Ost und West. Menscheln musste es, denn der Mauerfall und die Wiedervereinigung bilden bis heute den Dreh- und Angelpunkt der nationalen Erzählung des neuen deutschen Selbstbewusstseins. Die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR hat schließlich nicht nur bewiesen, dass der Sozialismus nicht funktioniert, sondern dass Ossis am Ende eben doch schon auch Deutsche sind.

Gerade diese neuen Deutschen bleiben aber die Problemkinder der Republik. Der Präsident appellierte, man möge nun endlich auch die Mauern des Hasses und der Entfremdung niederreißen, denn entfremdet hatte man sich in den letzten 30 Jahren. Der Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ gerade im Osten, sowie diverse Umfragen, die den Ostdeutschen eine wachsende Distanz zu jenem Staat bescheinigen, dem sie damals doch freiwillig und voller Zuversicht beigetreten waren, machen die ostdeutsche Wiederdeutschwerdung zu einer eher zweifelhaften Erfolgsgeschichte.

„Lasst euch nicht verWenden“

Dabei wollten die meisten DDR-Bürger*innen im November 1989 noch gar keine neuen Deutschen werden. Bis zum Dezember ergaben verschiedene Umfragen deutliche Mehrheiten für den Fortbestand einer eigenständigen DDR. Jeder weiß heute, dass der autoritäre Herrschaftsapparat des Politbüros der SED zu diesem Zeitpunkt politisch und moralisch bereits völlig bankrott war. Dass der Kapitalismus des goldenen Westens damals von den meisten Menschen (noch) nicht als vernünftige Alternative akzeptiert wurde, ist mittlerweile erklärungsbedürftig geworden. Als sich am 4. November 1989 eine halbe Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz zu einer riesigen Demonstration versammelten, ernteten Christa Wolf, Stefan Heym und viele andere noch großen Applaus, als sie für einen demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz eintraten. Schon zu diesem Zeitpunkt mahnte ein vorausschauendes Protestschild: „Lasst Euch nicht VerWENDEn“.

Als im Herbst 1989 hunderttausende Menschen von Rostock bis Plauen auf die Straße gingen, standen auf einmal alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zur Disposition. Besonders die Betriebe erlebten damals ihren „kurzen Herbst der Utopie“. Organisierte Gruppen oder einzelne Kolleg*innen stellten weitreichende Forderungen nach betrieblicher Mitbestimmung und initiierten die Gründung alternativer Interessenvertretungen. Renate Hürtgen und Bernd Gehrke haben das Aufbegehren der ostdeutschen Arbeiter*innen in ihrem Buch „Der betriebliche Aufbruch 1989“ eindrucksvoll dokumentiert: „Es war die Hochzeit eines ersten eigenständigen Suchens nach Jahrzehnten der Unterdrückung kollektiver Diskussionen und Aktionen der Belegschaften.“

Diese Politisierung war weder den Eliten im Osten, noch denen im Westen geheuer. Während das Politbüro darüber nachdachte, wie man den „Dampf vom Kessel ablassen“ konnte, hatten auch die westdeutschen Eliten kein Interesse daran, dass nun etwa auch die eigene Bevölkerung auf die Idee kommen könnte, die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft in Frage zu stellen.

„Wir sind das ein Volk“

Als am 9. November 1989 unkontrolliert die Grenzen geöffnet wurden, spielte der DDR-Herrschaftsapparat nicht zum ersten Mal den BRD-Eliten in die Hände. Während die Menschen gerade erst dabei waren, die Ausdrucks- und Organisationsformen der gesellschaftlichen Umwälzung zu entwickeln, drängten die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Westens mit aller Härte in den Osten. Als der Zentrale Runde Tisch 1 der DDR Anfang 1990 beschloss, keine Einmischung westdeutscher Parteien im Wahlkampf zuzulassen, wurde dieser schlicht ignoriert. 

Peter Radunski, damals Chef der Öffentlichkeitsarbeit der CDU (West), beschreibt die Arbeit seiner Partei folgendermaßen: „Wir haben sehr frühzeitig gewissermaßen die Aufgaben aufgeteilt: ihr Hessen, ihr kümmert euch um Thüringen beispielsweise, ihr Württemberger um Sachsen. Wir haben sie alle gebeten, helft.“ Schon früh lancierten West-CDU und BILD-Zeitung die Parole „Wir sind ein Volk!“, welche nach und nach den bis dahin bekannten Spruch „Wir sind das Volk!“ verdrängte. In den folgenden Monaten schmiedete die CDU, gemeinsam mit den neuen Parteien Demokratischer Aufbruch und der weit rechts stehenden Deutschen Sozialen Union, das Wahlbündnis Allianz für Deutschland. Man setzte auf ungehemmten Nationalismus und die Verbreitung von Panik vor einem angeblich bevorstehenden ökonomischen Zusammenbruch. Die Kernbotschaft: Nur ein schneller Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 GG kann die drohende Katastrophe abwenden. Der Journalist Peter Nowak schreibt in diesem Zusammenhang völlig zurecht, dass die großen Demonstrationen in der DDR nach und nach den „Charakter von Pegida-Vorläufern“ annahmen.

Zwischen Anpassung und Widerstand

Die nationalistische Propaganda und die utopischen Versprechungen auf den Wohlstand des Westens zeigten ihre Wirkung schnell. Als die Allianz für Deutschland die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 mit überragender Mehrheit gewann, war der Kampf praktisch entschieden. In den Betrieben hatten westdeutsche Gewerkschaften seit Februar darauf gedrängt, ihre Strukturen in den Osten auszudehnen und Betriebsratswahlen nach dem Muster der BRD durchzuführen. Bernd Gehrcke und Renate Hürtgen bemerken trocken, dass es in dieser Entwicklung keinen Platz mehr für Experimente gab. Konnten die kritischen Gewerkschafter*innen anfangs noch ganze Belegschaften mobilisieren, „gerieten sie mit ihren ursprünglichen Intentionen schnell ins Abseits. An die Stelle des Suchens und Ausprobierens trat ein pragmatisches Sich-zurecht-finden in den neuen markwirtschaftlichen Strukturen.“

Nachdem am 3. Oktober 1990 die DDR dann ökonomisch und institutionell vollständig abgewickelt wurde, begannen im Osten die langen Jahre zwischen Anpassung und Widerstand gegen die neuen Verhältnisse. Die nationalistische Propaganda der Wendezeit wirkte noch. Die von der umstehenden Bevölkerung bejubelten Angriffe von Neonazis auf die Unterkünfte vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen in Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) sind dafür nur die bekanntesten Beispiele. Auch westdeutsche Nazikader hatten zu diesem Zeitpunkt den Osten bereits als lukrativen Absatzmarkt für ihre politischen Angebote entdeckt.

An eine selbstorganisierte gesellschaftliche Umwälzung war zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr zu denken. Dennoch verlief der Übergang zur kapitalistischen Marktwirtschaft im Osten nicht so reibungslos, wie es die herrschende Geschichtsschreibung suggeriert. Obwohl dies nahezu aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist, erlebten die „neuen Bundesländer“ zwischen 1990 und 1994 eine massenhafte Welle von Abwehrkämpfen, die zu hunderten wilden Streiks bis hin zu Betriebsbesetzungen führten. Im thüringischen Bischofferode besetzten 1993 etwa 500 Kumpel das ehemalige Kaliwerk Thomas Münzer. Um die Schließung zu verhindern, traten sie letztlich sogar in den Hungerstreik und sorgten bundesweit für Aufsehen. Abwenden konnten sie die Schließung und das anschließende Absterben der Region nicht, obwohl das Werk zu den exportstärksten in ganz Deutschland gehörte.

Bini Adamczak äußerte sich letztes Jahr in einem Interview über die vergessenen Kämpfe der ostdeutschen Arbeiter*innen: „Diese Niederlage wurde nie umfassend aufgearbeitet. Wir können nur vermuten, dass eine solche nicht betrauerte Niederlage beim Versuch, sich gegen die Mächtigen zu wehren, ein Grund ist für spätere Entscheidungen, auf Schwächere loszugehen und sich mit den Mächtigen zu identifizieren.“ 

Es wäre die Aufgabe der politischen Linken in Ost und West, die kollektive Erinnerung an die gescheiterte Revolution von 1989, an ihre Möglichkeiten und ihre Niederlage, aber auch an die sieglosen Arbeiter*innenkämpfe in Ostdeutschland nach 1990 aufzubereiten und neu zu erzählen. Ein Leben, das nicht erzählt werden kann, schreibt der Ostberliner Historiker Karsten Krampitz, macht Menschen krank. 

Sascha Döring, LV Thüringen

  1. Der Zentrale Runde Tisch der DDR wurde auf Initiative der Bürgerrechtsbewegung “Demokratie jetzt!” einberufen. An ihm versammelten sich Vertreter*innen der Oppositionsgruppen, sowie der SED und der staatstragenden Massenorganisationen. Am 7. Dezember 1989 trat er das erste mal zusammen. Das Gespräch moderierten Kirchenvertreter*innen.