Ostdeutsch – was ist das eigentlich? Ein persönlicher Definitionsversuch

Trotz aller Beteuerungen, Verweise auf zeitliche Abstände und das Ende bestimmter Staaten bleibt eine Sache doch bestehen: Ich bin Ostdeutscher, Punkt. Es ist keine Eigenschaft, die man mir ansehen kann und durch mein antrainiertes Hochdeutsch kann man es mir auch nicht sofort anhören (zumindest, wenn ich mir Mühe gebe). Ich gehe auch nicht unbedingt damit hausieren (Freund*innen und Genoss*innen mögen das allerdings anders sehen). Es ist viel subtiler, es sind etwa Begriffe, die in der DDR verwendet wurden, wie Broiler, Plaste oder Sonnabend. Es sind die Geburtstagslieder, die ich zusätzlich kenne. Es sind die Geschichten, die ich von zuhause kenne und die mir DDR und Wende anders erklären, als es Geschichtsbücher können. Es ist das Gefühl, zu irgendwas dazuzugehören, das ich nicht so richtig erklären kann und das es so wahrscheinlich gar nicht gibt. Es ist die Erfahrung, dass viel über mich geredet wird und wenig mit mir.

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Ostdeutschsein ist für mich an sich eine relativ neue Erfahrung. Während meines Aufwachsens in Brandenburg war das wenig Thema, denn wir waren ja alle Ostdeutsche. Die Gegend war damals eine, aus der man weggezogen ist und daher gab es de facto keine Westdeutschen, die in der Klasse bei “Weil heute dein Geburtstag ist” nicht mitsingen konnten oder falsche Vorstellungen vom Jägerschnitzel hatten. Das Erwachsene bei Familienfeiern viel von früher erzählen, dürfte eine allgemeine Konstante sein und so hat sich mir die Bedeutung des Begriffs “Ostzeiten” nur wenig und vor allem spät erschlossen. Die DDR kannte ich aus ungefähr zwei Perspektiven, als Erfahrungsort meiner Familie und als Schreckgespenst aus dem Fernsehen und dem Geschichtsunterricht.

Ein markanter Moment meiner ostdeutschen Identitätsentwicklung war der Beginn meines Studiums in Berlin. Gewissermaßen von jetzt auf gleich war ich Teil der Minderheit jener, die ihr Abitur in Leipzig, Magdeburg oder Zwickau gemacht hatten, gegenüber denen, die Schulen in Mainz, Bremen oder Aachen besuchten. Lange dachte ich, dass es bei unserer Generation keine wirklichen Unterschiede mehr gibt, außer jene, die es auch unter Ostdeutschen gibt, weil etwa Schulsysteme je unterschiedlich funktionieren. Womit ich jedoch konfrontiert wurde, war nicht nur Unwissenheit, sondern auch Vorurteile, die für mich mehr oder weniger schwer wogen. Mir einen sächsischen Dialekt anzudichten, war schnell erledigt, überrascht zu sein, dass es Ossis gibt, die keine Nazis sind, hielt und halte ich für eine ziemlich Frechheit.

Strukturelle Unterschiede

Es ist nicht zu bestreiten, dass die Lebensverhältnisse in beiden Landesteilen ungleich sind und Ostdeutsche von den gesellschaftlichen Zumutungen meist schwerer getroffen werden, das zeigte nicht zuletzt der massive Widerstand gegen die Hartz-Reformen. Natürlich gibt es auch in der alten Bundesrepublik Gegenden, die massiv von Arbeitslosigkeit und der Entwertung von Berufsbiografien geprägt sind. Das Ausmaß bleibt jedoch weit hinter der flächendeckenden Erfahrung Ostdeutscher zurück. Die Stichworte Hartz IV, 1-Euro-Job und ABM sind für so gut wie jeden nicht nur Begriffe aus den Nachrichten, sondern mit konkreten Personen aus dem engsten Umfeld verknüpft. Viele Kommunen im Westen beklagen derzeit die Belastung durch den wirtschaftlichen Strukturwandel, der jetzt sozial abgefedert werden müsse. Die Schließung der letzten Steinkohlezeche im Ruhrgebiet wurde mit einem pathetischen, quasi-religiösen Akt in Beisein des Bundespräsidenten inszeniert. Dass das Ende der fossilen Energiegewinnung eine wesentliche Veränderung bedeutet, lässt sich nicht leugnen. Für mich bleibt da der bittere Beigeschmack, dass sich für den deutlich massiveren Strukturwandel im Osten lange niemand interessierte und die Schließung von Bergwerken in den 90er Jahren oft mit einem Achselzucken quittiert wurde. Diese seien schließlich nicht rentabel gewesen. Dasselbe Argument galt bereits seit 1957 für die westdeutsche Steinkohle, die mit insgesamt bis 300 Milliarden Euro subventioniert wurde. Hierfür setzten sich die Gewerkschaften allerdings ein, nicht jedoch für die ostdeutschen Kolleg*innen, auch nicht als etwa die Kumpel von Bischofferode 1993 in den Hungerstreik traten.

Nun habe ich selbst diese Verwerfungen nicht alle miterlebt. Vieles ist mir aus Erzählungen bekannt, vieles wurde über Jahre auch hinzugedichtet und weggelassen. Gleichzeitig bin ich gewissermaßen in eine Form kollektiven Gedächtnisses hinein sozialisiert worden, das mir spezifisch ostdeutsch erscheint und das all diese Erfahrungen speichert und weitergibt. Es sind Erfahrungen existenzieller Not in Folge von Arbeitslosigkeit. Es sind aber auch Kränkungen, wenn Abschlüsse nicht anerkannt wurden oder Leitungspositionen durch angebliche Fachkräfte aus dem Westen neu besetzt wurden – häufig Personen, die “drüben” nicht ohne Grund keine vergleichbare Position bekommen hätten. Es sind die Erzählungen davon, wie Menschen von Versicherungsmakler*innen und Gebrauchtwagenhändler*innen betrogen worden sind. Diese häufig nicht bearbeiteten Verletzungen brodeln unter der Oberfläche und resultieren in einem diffusen Gefühl der Zurücksetzung und unterdrückter Wut.

Alles nur Heimatliebe?

Wenn ich all das anspreche, begegnet mir häufig Unverständnis. Mir wird entgegengehalten, dass sei doch alles lange her und der Osten sei ausreichend gefördert worden. Alternativ heißt es, ich solle doch froh sein, wie viele Möglichkeiten ich jetzt hätte. Als letzter Punkt wird im Zweifel noch die Position vertreten, die Ostdeutschen hätten das so gewollt und überhaupt solle man sich erstmal der eigenen Nazis annehmen, bevor man “jammern” dürfte. Letzteres macht mich tatsächlich wütend.

Es ist nicht bestreitbar, dass es ein massives Problem mit Nazis im Osten gibt. Die AfD sitzt mit je über 20% der Stimmen in allen ostdeutschen Landtagen und ist häufig zweitstärkste Kraft. Die Anzahl an Übergriffen und Morden an nicht-weißen Menschen, Wohnungslosen, Linken und alternativen Jugendlichen ist geradezu unüberschaubar. Da gibt es nichts abzustreiten, zu relativieren oder zu beschönigen. Das ist allerdings auch selten etwas, was man linken Ostdeutschen lange erklären müsste, immerhin sind viele von uns mit eben jenen Nazis in dieselbe Klasse gegangen. Dieser Umstand ändert aber auch nichts daran, dass im Zuge des Beitritts der DDR zur BRD die oben beschriebenen Verwerfungen aufgetreten sind, mit denen man sich beschäftigen muss, wenn man verstehen will, was in diesen gar nicht mehr so neuen Bundesländern passiert.

Schnell komme ich so in eine nicht sehr bequeme Verteidigungshaltung, die dann häufig als Heimatliebe oder Form von Lokalpatriotismus ausgelegt wird. Zugegebenermaßen beziehe ich mich durchaus positiv auf Ostdeutschland. Das hat etwas zu tun mit bestimmten Kindheitserinnerungen, etwa an ein bestimmtes Gericht, das es so nur hier gibt, oder an eine Straße in meiner Heimatstadt, in der viele meiner Freund*innen lebten, bevor sie – wie ich – weggezogen sind. Es hat auch etwas damit zu tun, dass viele Ostdeutsche solche Erinnerungsorte verlieren, weil Schulen zu groß geworden sind für schrumpfende Städte und weggerissen werden, manchmal auch ganze Stadtviertel. Es hat etwas mit den Menschen zu tun, die unter schwierigen Bedingungen immer noch den Mund auf und den Rücken gerade machen, wenn es darum geht, Rechten entgegenzutreten. Und es ist etwas, was Menschen aus anderen Gegenden dieser Republik selten negativ ausgelegt wird, wenn sie sich positiv auf Köln oder das Ruhrgebiet beziehen.

Was ist denn nun die Antwort?

Der kleinste Konsens, auf den sich all jene, die mit “ostdeutsch” gemeint sind, vielleicht einigen könnten, ist der eines geteilten Erfahrungsraumes, wobei die konkreten, individuellen Erfahrungen sehr unterschiedlich ausfallen werden. In meinem ostdeutschen Freund*innenkreis befinden sich Menschen aus Lausitzer Braunkohlefamilien, Menschen, die in Brandenburg aufwuchsen und deren Eltern westdeutsche Akademiker*innen sind, Menschen, die Rassismus erfahren, Kinder von Montagsdemonstrant*innen und jene, deren Väter bei den Grenztruppen waren. Wir alle werden auf die Frage, was ostdeutsch eigentlich ist, wahrscheinlich eine andere Antwort geben. Nur was ein Jägerschnitzel ist, da sind wir uns einig.

Steffen Göths, LV Brandenburg