Antwort auf die Stellungnahme des LV Thüringen zur Durchführung von Zeltlagern im Sommer 2020

Der hier vorliegende Text nimmt Bezug auf den Diskussionsaufschlag des LV Thüringen vom 15. Mai 2020. Die Genossen Karl Müller-Bahlke (BZ Braunschweig, Bundes-F-Ring), David Pape (KV Bremen, Referent für Kinder- Jugend und Bildungspolitik im Bundesvorstand) und Kolja Schumann (LV Berlin) vertreten im Text ihre eigenen Positionen, nicht die des Bundesverbandes.

Mit diesem Text wollen wir unsere Position zu dem vom LV Thüringen verfassten “Einspruch” gegen die Stellungnahme des Bundesverbands darstellen, in der sich für die Durchführung von Zeltlagern ausgesprochen wurde. Wir, das sind Personen, die sich auf Bundesebene in den letzten Wochen besonders dafür eingesetzt haben, dass Zeltlager stattfinden

In vielen von den Punkten – und das bemerken die Genoss*innen des LV Thüringen ja selbst – besteht Einigkeit. Den Charakter als “Einspruch” leiten wir vor allem aus der Unterstellung ab, man würde blind an den gewohnten Routinen festhalten und sich daher als “Fürsorge- Anbieter” präsentieren, der lediglich helfe, einen reibungslosen Schulbetrieb durch ausgleichende Freizeitangebote möglichst rasch zu ermöglichen. Diese Intention geht aber an keiner Stelle aus den Positionierungen des Bundesverbands hervor. Vielmehr wurden viele der von den Genoss*innen aus Thüringen genannte Punkte bereits aufgegriffen. Der „Normalisierung des Alltags“ wurde immer wieder vehement widersprochen, wie in den Stellungnahmen “Situation in den Schulen” (1) und “Situation in den Universitäten” (2) zu lesen ist. Auch zu den „Coronapartys in den Betrieben“ (3) wurde Stellung bezogen. Hier wurde seitens des Bundesvorstands auch stets deutlich gemacht, welche Forderungen an Politik und Reaktion auf die neue Situation wir für die Richtige hielten. Neben unserer Unterstützung der Forderung nach einem Solidarsemester (2) finden sich dort auch als Rückgriff auf die Praxen in den Gliederungen “selbstorganisierte Hausaufgabenhilfe und das Bereitstellen von Infrastruktur wie Büchern oder Internet” (1) für Kinder und Jugendliche.

Ebenfalls einig sind wir uns in dem Punkt, dass “[e]ine vernünftige, nicht nach Maßgabe des Profits eingerichtete Gesellschaft auf eine Pandemie anders reagieren [würde]”, als es derzeit der Fall ist. In einer “vernünftig eingerichteten Gesellschaft”, gäbe es aber auch keine Abladung der sozialen Folgekosten der Pandemie bei der lohnabhängigen Bevölkerung und unser Auftrag als sozialistische Jugend für eine solche Gesellschaft zu streiten wäre obsolet.
Wir müssen als Sozialist*innen historisch konkret auf diese Krise reagieren. Als Sozialist*in in dieser Gesellschaft steht man immer vor dem Widerspruch, dass Gesellschaftsveränderung bestenfalls immer die Verbesserung der Lebenslagen einzelner im Hier und Jetzt bedeutet und daher nie ein abstrakter Vorgang ist. Dass konkrete Verbesserungen immer auch die Gefahr einschließen das Bestehende samt seiner Widersprüche zu befrieden ist kein Argument gegen diese, sondern auch der Umsturz dieser Gesellschaft lässt sich nur denken als Produkt des Widerspruchs, zwischen dem Versuch der Befriedigung konkreter menschlichen Bedürfnisse und den versteinerten Verhältnissen, die diese nicht zu befriedigen in der Lage sind.

Die Thüringer Genoss*innen setzen einfach eine mögliche Durchführung von Zeltlagern mit der vom Kapital lauthals geforderten Wiederaufnahme allen gesellschaftlichen Arbeitslebens gleich. Mit dem formalistischen Argument, dass alle Akteur*innen – so auch wir als Sozialistische Jugend – einfach weiter ihre Rollen spielen, unterschlagen sie die völlig unterschiedlichen Zwecke und Logiken, die den unterschiedlichen, teils sogar widersprüchlichen Forderungen der Akteuer*innen zugrunde liegen:

Während beim Kapital die nackte Angst vor Profitverlust vorherrschende Triebkraft ist, für die auch Risiken einer pandemischen Verbreitung des Virus billigend in Kauf und Menschenleben dem Profit untergeordnet werden, ist unsere Abwägung eine gänzlich andere: Für uns stellt sich die Frage, nach einer sozialistischen Praxis unter Pandemiebedingungen bei sich gleichzeitig verschärfenden prekären Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen.

Es war immer klar, dass der Lockdown nur eine temporäre Maßnahme sein kann – vor allem weil auch sehr früh abzusehen war, dass das Virus uns noch lange begleiten wird (4). Die Frage ist daher nicht, ob wieder geöffnet wird und Beschränkungen gelockert werden, sondern wie, wann und was. In der Gesellschaft tobt daher gerade ein Klassenkampf um die Ausgestaltung der Wiedereröffnung, auch unter den Kapitalfraktionen selbst. Für sie geht es darum, dem Souverän glaubhaft zu machen, für den Standort besonders systemrelevant zu sein. Zu thematisieren, dass (arme) Kinder und Jugendliche dabei besonders hinten runterfallen, ignoriert nicht die Funktionsweise dieser Gesellschaft, sondern skandalisiert eben diese.

Eine sozialistische Praxis zu entwickeln ist unter diesen Bedingungen nicht einfach, weil sie keine einfache Frontstellung bedeutet, auf der das Kapital auf der einen Seite für Öffnung kämpft, während wir uns für die längst mögliche Schließungen einsetzen müssen. Wir befinden uns vielmehr in einer doppelten Frontstellung: Wir sind gegen die Öffnungen des Kapitals in nicht lebensnotwendigen Bereichen, aber auch für die Entlastung derjenigen, die unter der Einrichtung der Gesellschaft und veränderten Lage besonders leiden. Als sozialistische Jugend ist es unsere Aufgabe, gemeinsam in einem Prozess eine solche Praxis zu entwickeln, die einerseits der veränderten Lebenslage der Kinder und Jugendlichen gerecht wird und andererseits das Risiko minimiert, dass es zu einem exponentiellen Wachstum der Neuinfektionen kommt.

In Zeiten, in denen jeder Kontakt auch eine mögliche Übertragung bedeuten kann, kann das Risiko aber nicht ausgeschaltet, sondern nur minimiert und abgewogen werden.

Im Moment der absoluten Ausnahme, der fehlenden Erkenntnisse und Erfahrungen war es wichtiger, sich so pandemie-eindämmend wie irgend möglich zu verhalten und das wichtige soziale Leben, den Austausch hintenanzustellen. Nach diesen zwei Monaten scheint die Situation in einen komplexen, aber nicht mehr chaotischen Zustand übergegangen zu sein. In diesem herrscht zwar nicht umfassende Kenntnis über alle Faktoren, aber Leitlinien des Handeln, der Aktion und Reaktion greifen wieder besser. Das bedeutet, dass wir inzwischen in der Lage sind, virologische Kennzahlen fundierter zu bewerten und diese in unsere Abwägung mit einzubeziehen. Wichtiger erscheint uns daher nun auf die mehrdimensionale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen abzustellen, also Maßnahmen zu ergreifen, die der Entsagung und Unterordnung unter das “Wichtiger” der letzten zwei Monate entgegenwirken.

Wir setzen uns dieses Jahr für die Durchführung von Zeltlagern ein, nicht weil das unsere gewohnte Routine ist und auch nicht, weil “der Rest aufmacht”, sondern weil wir es für richtig und wichtig halten. Dabei sind wir uns bewusst, dass es keine sicheren Kriterien für die „Richtigkeit“ der Entscheidung gibt. Deshalb beziehen wir diese Position auch nicht leichtfertig – ein Vorwurf, der manchmal in den Worten der Thüringer Genoss*innen mitschwingt. Alle Zeltlagerteams, die sich noch in den Planungen für diesjährige Zeltlager befinden haben ihren normalen Ablauf und ihr Organisationsverständnis völlig gekippt. Wir haben gemeinsam mit den Gliederungen diskutiert, welche Sommermaßnahmen unter welchen Bedingungen möglich sind und überlegen nun konkret, wie und welche Zeltlager dieses Jahr möglich gemacht werden können. Gestärkt in unserem Blick und unseren Forderungen haben uns auch wissenschaftliche Erkenntnisse und Gespräche mit Virolog*innen und anderem medizinischen Fachpersonal.
Für Zeltlager spricht dabei die relativ gut zu organisierende Abschottung der Gruppe nach außen, was die Infektionsgefahr auf dem Zeltlager über zwei Wochen minimiert. Auch können Zeltgruppen mit guter Vorbereitung voneinander isoliert werden. Hier bietet unsere Zeltlager-Pädagogik wichtige Ansätze, da sie auf Gruppen setzt und nicht auf atomisierte Einzelne. Studien zeigen zudem, dass die Gefahr sich im Innenraum anzustecken über 18 Mal höher ist als draußen (5). Das eliminiert zwar nicht die Ansteckungsgefahr in Schlafzelten, macht aber ein Zeltlager sehr viel sicherer gegen Ansteckung und Verbreitung als die Fahrt zur Stadtranderholung im ÖPNV. Zusätzlich sollen Maßnahmen wie Corona- und Antikörpertest, sowie regelmäßige Fiebermessungen dabei helfen, das Virus so früh wie möglich zu identifizieren. Da gerade die Eltern von Arbeiter*innenkinder besonders betroffen sind von schweren Verläufen des Virus, braucht es für jene Familien Zugang zu Wissen und Fähigkeiten wie man mit den gesundheitlichen und sozialen Folgen des Virus umgehen kann.
Gerade deshalb halten wir Zeltlager für eine angemessene Maßnahme. Sie sind potentiell in der Lage den Charakter einer bloßen Erholung zu überwinden und Kinder und Jugendliche in die Lage zu versetzen sich Wissen und Fähigkeiten anzueignen, die in der Pandemie (und auch in einer möglichen zweiten Welle) gebraucht werden. Aus dem Wissen über die soziale Dimension der Pandemie folgt nämlich auch, dass Arbeiter*innenkinder besonders unterstützt werden müssen mit dem Virus und seinen Folgen umzugehen. Dazu müssen besonders die klassenspezifische Informationslage, die Situation in der Schule und die besondere Enge, in der Arbeiter*innenkinder leben müssen in den Blick genommen werden. Die Perspektive, die Kinder zu isolieren um ihre Eltern vor dem Virus zu schützen, ignoriert aber sowohl die Mehrdimensionalität von Gesundheit als auch die vorherrschende Lebensrealität jenseits des Home-office, in der meistens nicht die Kinder das Virus nach Hause bringen, sondern sich die Eltern auf der Arbeit anstecken.

Aus diesen Gründen plädieren wir dafür, Zeltlager durchzuführen, wenn es die Umstände erlauben. Die Entscheidung für ein Zeltlager treffen selbstverständlich die Zeltlagerteams, die Helfer*innen, die Vorstände und diese Verantwortung kann ihnen nicht abgenommen werden. Der Bundesvorstand kann sich dafür einsetzen, dass Zeltlager (von behördlicher Seite) genehmigt werden. Er kann (wie bereits geschehen) Informationen bereitstellen und den Austausch zwischen den Gliederungen und unseren Vereinen anregen und organisieren. Aus diesem Grund arbeiten gerade viele Genoss*innen aus dem Bundesvorstand, den Arbeitsgruppen, dem Bundes- und anderen Gliederungsbüros an Leitfäden und Konzepten, wie Zeltlager auch dieses Jahr durchgeführt werden können, denn allen ist klar, dass Zeltlager dieses Jahr sicher nicht wie bisher gewohnt ablaufen werden.

Mit dem Gefühl der Handlungsunfähigkeit sind wir alle nicht allein. Gerade weil die Situation eine beinahe völlige Umstellung und Neubewertung unserer Praxis braucht, dürfen wir weder in Schockstarre verfallen noch zu planlosem Aktionismus übergehen. Wir glauben Zeltlager sind eine gute Möglichkeit, sowohl die gebotene Vorsicht einzuhalten, als auch mit den pädagogischen und sozialen Herausforderungen der Pandemie umzugehen.

FREUNDSCHAFT!

Karl Müller-Bahlke (BZ Braunschweig/ Bundes-F-Ring), Kolja Schumann (LV Berlin) und David Pape (KV Bremen/ Referent für Kinder-, Jugend- und Bildungspolitik im Bundesvorstand)

(1) https://www.wir-falken.de/aktuelles/meldungen/10832257.html
(2) https://www.wir-falken.de/aktuelles/meldungen/10842048.html
(3) https://www.wir-falken.de/show/10827770.html…
(4)https://www.ndr.de/…/41-Coronavirus-Update-Der-Tanz-mit-dem…
(5) https://www.medrxiv.org/…/10…/2020.02.28.20029272v2.full.pdf)