Wieso werden die deutschen Polizeigesetze verschärft? Mit Agnoli staatskritisch betrachtet, sind Demokratie und zunehmender Autoritarismus kein Widerspruch

Bei der Auseinandersetzung mit diesen Änderungen stellt sich aus linker Perspektive immer wieder die Frage, wieso der deutsche Staat derartige Maßnahmen durchsetzt.

Eine starke Wahlkampfwirkung kann nicht das Ziel sein, da von manchen Politiker*innen auch versucht wird, die Details der Änderungen vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Viele Politiker*innen riskieren eher, ihr politisches Ansehen aufs Spiel zu setzen, weil sie auch in der bürgerlichen Presse stark in der Kritik standen, Bürger*innenrechte einzuschränken, weshalb sich bis zu 30.000 Menschen den Demonstrationen gegen die Gesetze anschlossen.

Die Gefahr einer wirkmächtigen linken Bewegung, die den Staat angreift, existiert nicht und es ist auch schwer vorstellbar, wie die reale Gefahr des rechten und islamistischen Terrors in Deutschland besser bekämpft werden soll, wenn die Polizei z.B. einfacheren Zugriff auf Explosivwaffen hat. Wahrscheinlich würde die Verfügbarkeit von mehr Waffen für die Behörden es Rechtsterroristen tendenziell einfacher machen, wenn man bedenkt, wie sehr die Behörden von ihnen durchsetzt sind.

Es gibt also keinen augenscheinlichen Grund, wieso die neuen Gesetze durchgesetzt werden.

Der Staat und die Integration der Massen

Der Theoretiker Johannes Agnoli beschrieb 1967 in seinem Buch Die Transformation der Demokratie, wie moderne kapitalistische Demokratien funktionieren. Mithilfe seiner Analyse kann man versuchen, die aktuellen deutschen Entwicklungen hin zu einem autoritären Staat zu erklären.

Laut Agnoli ist es eine wichtige Aufgabe der Politik, für sozialen Frieden zu sorgen. Dies passiert auf verschiedenen Wegen. Zum einen werden große Teile der Bevölkerung materiell durch Sozialsysteme integriert und somit an den Staat gebunden. Sie haben so kein Bewusstsein davon, durch das Zwangssystem der Lohnarbeit unterdrückt zu sein, sondern werden mit dem Status quo versöhnt.

Zum anderen soll sich den Sorgen der Menschen im Streit der parlamentarischen Parteien angenommen werden. Agnoli betont, wie wichtig es ist, dass die Menschen ihre Aufmerksamkeit in Fragen der Politik völlig auf das Parlament richten und nur in seinen verfassungsrechtlich vorgegebenen Grenzen Lösungen suchen. In modernen Demokratien sind alle Parteien durch die Verfassung auf eine konstruktive Mitarbeit an der Herrschaftsausübung verpflichtet. Eine wirkmächtige Fundamentalopposition gibt es nicht. Es ist also im Interesse aller Parteien, für sozialen Frieden zu sorgen, weil sie alle den Staat bewahren wollen, unabhängig davon, wie sich ihre Politik untereinander unterscheidet. Der Widerspruch zwischen den immensen Möglichkeiten, die mit dem Fortschritt der Produktivkräfte gegeben wären, und dem gewaltigen Leid in der Welt wird dethematisiert und seine Irrationalität kaschiert, wenn sich Parteien über Fragen der Wohlstandsverteilung streiten und einige Menschen in den Industrienationen den eigenen Konsum vergleichsweise komfortabel organisieren können.

Agnoli sagt, dass es nur folgerichtig sei, dass die Herrschaft sich nicht bloß durch Parteienpluralismus und Konsummöglichkeiten um den sozialen Frieden kümmert, sondern auch zur „offene[n] Unterdrückung“ übergehen kann und den „Wunsch nach einer zusätzlichen, auch polizeistaatlichen Sicherung der konstituierten gesellschaftlichen Ordnung (also: nach einer zur Not gewaltsamen Garantie vorhandener Privilegien)“ hegt. Diese offene Unterdrückung steht gar nicht im Widerspruch zur liberalen Verfassung, sondern ist vielmehr Ausdruck ihres Zwecks: Sicherung des sozialen Friedens. So soll sich auch schon auf kommende kapitalistische Krisen vorbereitet und die Sicherung des Systems für diese Zeiten garantiert werden, in denen sozialer Friede besonders gefährdet ist.

Aber müssten wir nicht für das Jahr 2020 konstatieren, dass der soziale Friede schon so sehr gesichert ist, dass weitere Polizeirechte gar nicht nötig sind, um Protest zu verhindern? 

Agnoli stellt fest, dass auch in einer oppositionslosen Gesellschaft, „da die Rebellion immer potentiell gegenwärtig ist“, es

„genau in der Ausübung der Friedensfunktion [liegt], dass der Staat von der Friedensstiftung zur Stiftung von Ruhe und Ordnung übergeht. … Der alte liberale Staat … kannte nur den nackten Armee- und Polizeieinsatz gegen die streikenden Arbeiter. Der heutige politische Staat darf den Notstand auf alle Bereiche ausdehnen, deren Regelung ihm gesellschaftlich übereignet worden ist. … Der Notstandsstaat zeigt sich so als Fortsetzung und Krönung des Wohlstandsstaates …. Der Notstand wird ausgerufen, um den Wohlstand … zu retten, falls … proletarisierte Massen den sozialen Ausgleich durch hohe Forderungen gefährden … Für Ordnung sorgen bei Ausbruchsversuchen der Massen heißt: die Integration, der der consensus gekündigt wird, mit den Mitteln der Gewalt wiederherzustellen. Der Staat, der für Ruhe und Ordnung sorgt, offenbart den wirklichen Zweck der … Integrationswirkung des friedensstiftenden Staates – und den wirklichen Charakter seiner freiheitlich-demokratischen Einrichtungen.“

Die mit den neuen Gesetzen besser ausgestattete Polizei stellt nur die gewaltvolle Ergänzung zu Konsum und Parteienpluralismus dar und ihre Rechte werden immer weiter ausgebaut, weil die nächste Krise auf Grund der Fragilität des Kapitalismus jederzeit bevorstehen könnte.

Kommunistische Fundamentalopposition

Tatsächlich sind die Polizeigesetze der letzten Jahre keine neue Entwicklung. Sie reihen sich in die lange Geschichte der Beschränkungen bürgerlicher Freiheiten ein, die spätestens mit den Notstandsgesetzen von 1968 begann.

Wie kann es sein, dass bis heute diesen autoritären Tendenzen so wenig entgegengesetzt werden konnte? Wie schon erwähnt, gingen zehntausende Menschen auf Demos, die die Bewahrung grundgesetzlicher Freiheiten forderten, um die Polizeigesetze zu verhindern. Doch schließlich konnte die Herrschaft die neuen Gesetze problemlos einführen.

Diese Tendenz zur immer weiter fortschreitenden autoritären Entwicklung des Staates erklärt Agnoli damit, dass es keine Fundamentalopposition mehr gibt. Wie oben ausgeführt, ist es nicht möglich, sich auf das Grundgesetz als Instanz gegen die autoritären Entwicklungen zu berufen, wie die Demonstrierenden es taten. Vielmehr müsste eine Protestbewegung die kapitalistisch-bürgerliche Herrschaft an sich angreifen.

Agnoli weist mit dem Begriff der „Verstaatlichung des Bewußtseins” darauf hin, dass die „Entpolitisierung der Massen“ „eine der elementaren Existenzbedingungen des politischen Staates“ ist. Er meint, dass die Masse erst dann wirklich politisiert ist, „wenn sie das Bewußtsein des gesellschaftlichen Konflikts hat, in den sie eingespannt ist“. Das haben Linksliberale, die sich auf die vermeintlich staatlich garantierte Würde des Menschen berufen, nicht. Sie erkennen nicht, dass der Staat über sie Herrschaft ausübt und sie zur Lohnarbeit zwingen muss, anstatt sich um ihre Freiheitsvorstellungen sorgen zu können.

Laut Agnoli wäre eine Politisierung der Regierten und eine Fundamentalopposition im Parlament und auf der Straße aber noch möglich. Er geht sogar so weit zu sagen, dass das Fehlen dieser beiden Faktoren der Hauptgrund für die autoritäre Entwicklung der Staatsmacht ist und nicht etwa konservative Parteien daran schuld tragen. Nach Agnolis Einschätzung könnte eine radikale Opposition „den Betrieb“ stören „und ihn unter Umständen zerstören“.

Ausblick

Für die, die keine Lust darauf haben, ihre staatlich organisierte Schikanierung auch noch selbst bezahlen zu müssen, wie zu Beginn des Textes dargelegt, bleibt also nur eine Möglichkeit: Sich grundsätzlich und unversöhnlich gegen das System zu stellen und sich kollektiv zum Zwecke seiner Überwindung zu organisieren.

Dabei können unter anderem die Beobachtungen von Johannes Agnoli eine große Hilfe sein. Mit seiner Theorie kann eine Einschätzung der heutigen historisch spezifischen Situation vorgenommen werden, um auszuloten, in welcher Form die von ihm geforderte Fundamentalopposition noch möglich ist.

Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften. Konkret Literatur Verlag 2004.

Eduard Kirchner, KV Jena