Braucht Gedenken Orte? Keine Gedenktafel, kein Denkmal und kein Stein können das Ziel sein, sondern nur der Weg dorthin.

Gedenkstätte Buchenwald, Glockenturm mit Denkmal von Fritz Cremer / Bild: Wikimedia Commons

Die Frage im Titel dieses Artikels, mit der inhaltlich auseinanderzusetzen ich gebeten wurde, rief in mir zunächst einige Verwirrung hervor. Ausschlaggebend dafür war der sonderbare Akteur, der darin benannt wird: das Gedenken. Braucht das Gedenken einen Ort?, lautete denn also die Frage. Gedenken an sich hat jedoch kein Bedürfnis, keinen Wunsch und stellt sich auch diese Frage nicht. Denn Fragen nach derartigen Notwendigkeiten stellen sich stets die Subjekte, die die Antworten darauf zur Grundlage ihres Handelns machen wollen. Nach einiger Überlegung habe ich mich dazu entschieden, genau diese Tatsache zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen zu machen und im folgenden Artikel daran der Frage nachzugehen, wer eigentlich Orte des Gedenkens braucht und wozu? 

Funktionen von Gedenkorten

Gedenkorte initiieren zu wollen, kann verschiedene Gründe haben. Die zwei wichtigsten Motive, die sich hierfür benennen lassen, sind sicherlich einerseits die Schaffung eines Ortes für (individuelle) Trauer, beispielsweise um Verstorbene, andererseits jedoch die Generierung politischer Aufmerksamkeit für den Gegenstand des Gedenkens, gewissermaßen die Konstituierung eines Mahnmals. Beide Beweggründe müssen nicht zwangsläufig zusammenfallen: So ist eine Grabstätte auf einem Friedhof in vielen Kulturkreisen ein Ort des Gedenkens, beispielsweise für die Angehörigen und früheren Freunde der Toten. Geschaffen wird sie beispielsweise durch die Familie, die sich dort individuell oder gemeinsam an die verstorbene Person erinnert oder trauert. Eine politische Dimension des Gedenkens ist damit nicht automatisch verbunden. Diese entsteht, wird dem Ort eine über die individuelle Trauer hinausreichende Bedeutung zugemessen, z.B., weil jemand Opfer eines rassistisch motivierten Verbrechens wurde. Häufig ist die Politisierung des Gedenkens auch mit einer Erweiterung der Gruppe der Akteure, die die Initiierung eines Gedenkortes forcieren, verbunden sowie mit einer Veränderung der Anforderungen, die daran gestellt werden. Nicht allein die Familie, sondern auch politische Organisationen oder fremde Einzelpersonen wirken häufig daran mit. Die Ebene des privaten Gedenkens an einen Freund oder ein Familienmitglied wird damit verlassen. Politisches Gedenken stellt ein Ereignis oder eine Tat in den Mittelpunkt und erinnert an Menschen vor dem Hintergrund dieser Tat. Deshalb ist es beispielsweise nicht notwendig, die Opfer eines rechten Terroranschlags persönlich gekannt zu haben, um ihnen zu gedenken. Politische Gedenkorte befinden sich darum auch häufig an Tatorten oder Orten des öffentlichen Interesses und weniger an Gräbern, wenngleich diese z.B. mit Blick auf KZ-Gedenkstätten diese Orte nicht immer voneinander zu differenzieren sind. Doch selbst dort finden sich häufig noch unterschiedliche Gedenkorte für individuelles und politisches Gedenken. Denn auch wenn Angehörige der dort Ermordeten am politischen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus partizipieren, sind die Orte für sie eben noch etwas anderes: Orte der Trauer, die gewissermaßen das individuelle Grab ersetzen müssen, das die Nazis ihren Müttern, Vätern, Freund*innen und Genoss*innen verweigerten. Familien installieren deshalb Tafeln mit eingravierten Namen, die bisweilen stark an Grabsteine oder Grabmale auf „gewöhnlichen“ Friedhöfen erinnern. Zeremonien zu Gedenktagen, beispielsweise dem Befreiungstag oder dem internationalen Holocaust-Gedenktag finden dort jedoch nicht statt. Für das politische Gedenken sind andere Orte und Gedenkzeichen präferiert, die die gesellschaftliche Dimension des Geschehenen in den Mittelpunkt rücken. Auch wenn der Begriff des „Mahnmals“ heute häufig der verstaubten Mottenkiste des DDR-Antifaschismus zugerechnet wird, so teilen auch moderne Denkmäler diesen Impetus – wenngleich in weniger autoritärem Duktus. Auch sie sollen die Vergangenheit mit Blick auf die Zukunft deuten und sind sich nicht selbst Zweck. Sie thematisieren Rassismus und Antisemitismus mit dem Ziel, ihn in seinen mörderischen Auswirkungen sichtbar zu halten, zu skandalisieren und zu politischem Handeln dagegen in der Gegenwart aufzufordern. 

Selbst einen Gedenkort schaffen – Wozu? 

Derzeit gibt es öffentliche Debatten um die Errichtung von Gedenkorten zur Erinnerung an die Opfer rechten Terrors in der Gegenwart. So hat zum Beispiel die „Initiative 19. Februar“ einen Gedenkort für die Opfer des Anschlags von Hanau eingerichtet, bei dem 2020 zehn Menschen aus rassistischen Gründen ermordet wurden.  Die Synagogentür, die im Oktober 2019 dem Angriff eines rechtsextremen Attentäters standhielt und ein Blutbad an der jüdischen Gemeinde verhinderte, wurde kürzlich als Mahnmal neben der Synagoge installiert.

Einen Ort des Gedenkens für die Opfer rechten Terrors zu schaffen oder sich an den Debatten darum zu beteiligen, kann ein wichtiger politischer Akt auch für uns als sozialistischer Kinder- und Jugendverband sein. Doch nicht die Tatsache, dass irgendwann irgendwo eine Tafel, ein Stein oder etwas anderes installiert wird, ist dabei entscheidend. Ritualisierte Gedenkpraxen unhinterfragt zu reproduzieren, hilft sicherlich niemandem weiter. Dem Gedenkort voraus gehen muss eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Gedenkens. Sich mit den Ursachen rechten Terrors zu beschäftigen, kann beispielsweise eine Reaktion auf die spontane Fassungslosigkeit sein, die wir erleben, wenn wieder einmal Menschen Opfer rechter Gewalt geworden sind. Auch die Fragen, wie so ein Ort auszusehen habe, an wen er sich richtet oder wo er sich befinden solle, wären politisch zu diskutieren. Der Blick in die Vergangenheit hätte dann auch konkrete Konsequenzen für die Zukunft, für die eigene politische Praxis. Hürden und Widerstände, auf die die Initiator*innen von Gedenkorten im Laufe des Prozesses stoßen oder eben auch nicht, lassen uns darüber hinaus etwas über die Gesellschaft begreifen, in der wir leben und damit eben auch über die Gesellschaft, die die Rassist*innen, Antisemit*innen und Frauen*feinde hervorbringt, an deren mörderische Taten wir erinnern wollen. Jeder einzelne rechte Übergriff, antisemitische Anschlag und jedes rassistische Gewaltverbrechen ist auch ein Beweis des Scheiterns dieser Gesellschaft an ihrem Glücksversprechen auf ein Leben in Freiheit und Gleichheit für alle. Das beharrlich zu kritisieren und auch öffentlich sichtbar zu machen, dafür bräuchten wir Orte des Gedenkens.

Annika Neubert, LV Thüringen