Hilfe, meine Beziehungen sind verdinglicht

Viele Menschen fühlen sich von den gesellschaftlichen Entwicklungen überrannt und so, als könnten sie gar nichts dagegen tun. So scheint beispielsweise der Klimawandel allem Aktivismus zum Trotz unaufhaltsam: weil Kohle und Erdöl so billig sind, hat jedes Land und jedes Unternehmen einen Nachteil, wenn es selbst darauf verzichtet, aber die anderen nicht. Die Rente scheint perspektivisch ohnehin verloren, denn wer soll die finanzieren? Und Privatsphäre in der digitalen Welt wird wohl weitgehend eine Illusion bleiben, solange man mit personalisierter Werbung so viel Geld verdienen kann. Armut und Arbeitslosigkeit sind in dieser Gesellschaft auch nicht zu vermeiden und der Faschismus verschwindet auch nie wirklich. Kurz: es scheint, als hätte diese Gesellschaft ein Eigenleben, dem weder Politik, Gewerkschaften noch irgendjemand anderes etwas entgegensetzen können. Was bleibt da anderes übrig, als wie ein Surfer auf der Welle der ohnehin stattfindenden gesellschaftlichen Entwicklungen zu reiten, anstatt sich gegen das aufzulehnen, was scheinbar so oder so kommen wird?

Anders als viele Linke glauben ist dieses ‘Eigenleben’ der Gesellschaft nicht nur ein Gefühl, sondern wirklich da. Und das ist verrückt und erklärungsbedürftig. Schließlich ist Gott ja tot – wer außer den Menschen sollte die Gesellschaft denn prägen? Natürlich niemand, es sind schon die Menschen, die über die Gesellschaft und ihre Entwicklung entscheiden. Und dennoch muss es jedem Menschen, auch den Reichen und Mächtigen, so vorkommen, als hätten sie keinen wirklichen Einfluss auf den Lauf der Dinge: Die Unternehmer*innen können nur so handeln, dass sie auf dem Markt überleben, und die Politiker*innen sind vom ominösen ‘Willen des Volkes’, von ihren Parteien, Umfragewerten und Journalist*innen abhängig.

Was hat das mit ‘Beziehungsweisen’ zu tun?

Auf größerer Ebene sind ‘Beziehungsweisen’ und ‘Gesellschaft’ nur verschiedene Worte für die die gleiche Sache: „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn“ (Marx). Die Gesellschaft zu verstehen heißt also zu verstehen, wie sich die Menschen in ihr aufeinander beziehen. 

Beim Wort ‘Beziehungen’ denken wir zunächst an Liebesbeziehungen, Freundschaften, WG oder Familie – eben an den zwischenmenschlichen Bereich. Aber wir alle stehen auch zu Menschen in Beziehungen, die wir gar nicht kennen. Wir kaufen Produkte, die andere Leute herstellen, und arbeiten (jetzt oder in Zukunft) an Produkten oder bieten Dienstleistungen an, die die anderen Leute dann konsumieren. Auf die eine oder andere Art sind wir so mit fast allen Leuten auf der Welt irgendwie verbunden. Dass es sich trotzdem nicht so anfühlt, als hätte man Beziehungen zu allen anderen Menschen, hat den gleichen Grund, wie der Eindruck, man könne an dieser Gesellschaft nichts wirklich ändern – und wie die Tatsache, dass Sozialwissenschafter*innen immer nur über Staatsformen, Institutionen und ‘die Märkte’ oder andere scheinbar ‘objektive’ Dinge reden, wenn sie über die Gesellschaft sprechen.

Beziehungsstatus: sachlich 

Unsere Beziehungen zu den anderen Menschen sind nicht wirklich “zwischenmenschlich“ – wir beziehen uns auf sie eben nicht als Menschen, sondern als Warenbesitzer*innen und Rechtssubjekte. Marx formulierte das so: „Die Waren können nicht selbst zu Markte gehen und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehen, den Warenbesitzern. […] Die Personen existieren hier füreinander nur als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer.“

Dass ein Ding einen Wert hat, erscheint als Eigenschaft des Dings: Eine Packung Milch hat scheinbar die Eigenschaft, dass sie 1,50 Euro kostet. In Wirklichkeit sind Wert und Preis aber keine Eigenschaft eines Dings, sondern drücken die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Milchproduzent*innen und allen anderen Gesellschaftsmitgliedern aus. Diese beziehen sich so aufeinander, dass das Produkt des Einen einen Preis A und das Produkt der Anderen einen Preis B hat. Wiederum mit den Worten von Marx formuliert: „Es [das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte] ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“

Die Analyse der Warenform bei Marx soll gerade zeigen, dass Wert, Preis und so weiter nur scheinbar objektive Formen sind. In Wahrheit sind es gesellschaftliche, also zwischenmenschliche und subjektive Beziehungen: „Den letzteren [den Produzenten] erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“

Scheinbar beziehen sich auf dem Markt Dinge aufeinander (x Ware A mal x ist so viel wert wie y Ware B mal y), während in Wirklichkeit die Produzent*innen von Ware A und Ware B sich aufeinander beziehen. Die historische Entwicklung der warenproduzierenden Gesellschaft hat jede*n von uns in ein Verhältnis zu allen anderen Warenproduzent*innen gesetzt: Vermittelt über das Geld stehen wir in einem ökonomischen Verhältnis zu allen anderen Personen. 

Beziehungsstatus: rechtlich

Der gleiche Gedanke lässt sich auch in Bezug auf Staat und Recht entwickeln. Denn es ist dasselbe gesellschaftliche Verhältnis, das sich nach einer Seite hin als (ökonomischer) Wert darstellt, nach der anderen hingegen als Rechtsverhältnis. Wir haben allen anderen Bürgern gegenüber Rechte und Pflichten. Aber auch diese Beziehung erscheint nicht als unmittelbar persönliche. Genauso wie wir uns nur über das Geld ökonomisch auf alle anderen Personen beziehen, beziehen wir uns nur über den Staat rechtlich auf sie. Unsere Beziehungen nehmen gewissermaßen einen Umweg über Staat und Recht. Denn wir alle sind dem Gesetz unterworfen. Dass wir eine Person beispielsweise nicht verletzen dürfen, folgt nicht unmittelbar aus einer Übereinkunft zwischen uns, sondern aus der gesetzlichen Regelung. der Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit zum Beispiel, wird nicht unmittelbar eingefordert und durchgesetzt, sondern vermittelt über den Staat: Wenn du mich schlägst, kann ich zu Gericht gehen und Unterlassung und Schadensersatz erzwingen.

Gegen die Verdinglichung

Was Marx also „sachliche Verhältnisse der Personen“ nennt, ist die verdinglichte Beziehungsweise zwischen den Gesellschaftsmitgliedern. Sie beziehen sich aufeinander nicht unmittelbar und nicht als Menschen, sondern nur vermittelt über Staat und Geld. Beides abzuschaffen, hieße also , diese Beziehungsweise durch eine andere zu ersetzen, in der die Menschen sich aufeinander als Menschen beziehen. 

Dann würde auch das Phänomen verschwinden, dass die Gesellschaft ein vom Willen ihrer Mitglieder unabhängiges Eigenleben entwickelt . Weil es dann nicht mehr so wäre, würde es sich auch nicht mehr so anfühlen, als wäre jede*r Einzelne den gesellschaftlichen Entwicklungen wie Naturgesetzen ausgeliefert.

Dass wir uns als Genoss*innen aufeinander beziehen, uns gegenseitig unterstützen, auch wenn wir uns persönlich gar nicht wirklich kennen, offen miteinander umgehen können und so weiter, ist ein Beispiel für eine solche andere, unmittelbar menschliche Beziehungsweise. Und ich glaube nicht, dass das eine Selbstverständlichkeit ist – auch nicht in linken Organisationen. Offensichtlich dürfte das bei den früheren kommunistischen Parteien sein, in denen gegenüber der Spitze absolute Disziplin und Unterordnung gefordert wurde. Was sinnvoll sein mag, wenn man die Macht im Staat übernehmen will, aber garantiert nicht dabei hilft, eine neue Gesellschaft im Sinne einer neuen und wirklich anderen Beziehungsweise zwischen ihren Mitgliedern zu schaffen. Aber auch bei heutigen linken Organisationen kommt es mir nicht selbstverständlich vor. Wo es vor allem um die eigene Coolness in der linken Szene geht, entsteht genauso ein Verhältnis der Konkurrenz untereinander wie in der Gesellschaft, die man ja eigentlich verändern will. Wo es aber umgekehrt nur um den praktischen Erfolg des Politikmachens geht, beispielsweise darum, eine Gesetzesänderung durchzusetzen, reduzieren sich die Organisationsmitglieder genauso wie im Kapitalismus auf ihre politische Arbeitskraft und Nützlichkeit für dieses Ziel. Das ist also gerade auch kein Bezug auf die anderen als individuelle Menschen. Genauso wenig kann unser Verhältnis zueinander aber das eines bloßen Freundeskreises sein. Denn dann würden wir einen Teil unserer Persönlichkeiten von unseren Beziehungen abspalten: den als tätiges, als arbeitendes und die Umwelt veränderndes Wesen. 

Aber auch bei uns Falken ist natürlich nicht alles perfekt. Auch bei uns gibt es Gruppendynamiken, die dazu führen, dass manche führen wollen und andere bloß ausführen oder dass sich Strukturen verhärten und kaum noch veränderbar erscheinen, weil man es ja schon immer so macht. Und selbst, wenn man diese Probleme beiseite lässt: Ob unser (idealisiertes) Verhältnis als Falken-Genoss*innen wirklich ein Vorbild für die befreite Gesellschaft sein kann, weiß ich nicht. Schließlich entsteht unsere Verbindung zueinander ja auch aus der Ablehnung dieser Gesellschaft. Fällt dieses Band weg, müsste etwas anderes gefunden werden, das an seine Stelle tritt. Aber für den Moment scheint es mir genauso ein Schritt in die richtige Richtung zu sein und genauso viel zu bringen, wie beispielsweise ein Lesekreis oder eine politische Aktion. In diesem Sinne: Freundschaft!

Jan (LV Thüringen)