Warum wir nicht alle Arbeiter*innen sind – und warum wir trotzdem gewinnen können!

Die Behauptung, es gäbe mittlerweile keine Klassen oder mindestens keine Arbeiter*innenklasse mehr, ist auch in der Linken immer noch verbreitet. Die Welt heutzutage scheint komplizierter, immerhin gibt es in den kapitalistischen Zentren eine ganze Reihe von Dienstleistungsberufen, die nicht so recht zum Bild der schaffenden männlichen Malocher passen wollen. Ein Versuch, die Welt wieder einfach zu machen und den Klassenkampf wieder zu beleben, ist das Gegenargument, nach dem alle Lohnabhängigen Teil der Arbeiter*innenklasse sind. 

Was dieses Argument im 21. Jahrhundert zunehmend auch in der sozialistischen Linken populär macht, ist die wirkliche Notwendigkeit, überhaupt irgendein geteiltes Interesse im politischen Kampf zu betonen. Populäre liberale Gesellschaftskritiken leisten gerade eher das Gegenteil, nämlich extrem präzise die Unterschiedlichkeit von Unterdrückungserfahrungen auszuleuchten. Sie haben dabei den Vorteil, sehr unmittelbar und fast formelhaft an die Unterdrückungserfahrungen im Kapitalismus anschließen zu können. Keine zwei Erfahrungen im Kapitalismus sind gleich.

Die ebenso formelhafte Erwiderung, dass fast alle Menschen das Merkmal der Lohnabhängigkeit teilen, bleibt dagegen etwas zahnlos. Mit diesem Argument konkurriert die sozialistische Linke mit der liberalen Gesellschaftskritik auf deren Terrain, indem sie versucht die Klassenposition als formelhafte ja-nein-Frage zu fassen, die auf den individuellen Alltag angewendet werden kann: Kriegst du Lohn oder nicht? Statt auf ein gemeinsames Interesse wird auch hier nur auf ein gemeinsames Merkmal verwiesen und Interesse mit diesem Merkmal gleichgesetzt: Ihr seid lohnabhängig, ihr seid auf der gleichen Seite. Dass das kaum jemanden überzeugen kann, ist wenig verwunderlich: Zu krass sind die lebensweltlichen Unterschiede zwischen der rumänischen Spargelstecherin und dem Tönnies-Manager. 

Der Versuch, die Analyse von Bündnismöglichkeiten auf Basis eines gemeinsamen Interesses über den abstrakten Verweis auf die geteilte Lohnabhängigkeit abzukürzen, helfen uns in der praktischen Organisierung nicht weiter. Klassenbewusstsein heißt nicht, sich einer bestimmten eigenen Identität bewusst zu werden, sondern zuerst die gesellschaftliche Arbeitsteilung zu verstehen und dann die eigene Rolle darin zu erkennen. Das passt fundamental nicht zu einem formelhaften und privaten Verständnis von Theorie, weil der Blick auf Aspekte der eigenen Lebenserfahrung dafür nicht ausreichend ist. 

Materialismus ist mehr als der Blick in den Arbeitsvertrag. Ein Verständnis der eigenen Position im Klassenkonflikt setzt ein Verständnis der Gesellschaft voraus, dass die konkrete politische und ideologische Absicherung, die Teilung von Kopf- und Handarbeit und die globale Stellung des eigenen Landes in der Staatenkonkurrenz mit einbezieht. Das bedeutet aber mehr als die Aufforderung zur noch gründlicheren individuellen Klassenreflexion. Theorie ist für eine sozialistische Organisation keine Handlungsanleitung für das private Verhalten ihrer Mitglieder, sondern eine Strategiehilfe für den politischen Kampf. Sie hilft den Funktionär*innen dabei, sowohl Chancen als auch praktische Schwierigkeiten im Verbandsaufbau zu antizipieren.

Die größte Schwierigkeit besteht darin, die Rolle der Zwischenklasse zu beschreiben, die in den westlichen Industrienationen seit Ende des 19. Jahrhunderts zahlenmäßig und politisch an Bedeutung gewonnen hat (auch wenn sie bis heute bei weitem nicht die Mehrheit stellt). Die Rolle von nicht-produktiven Lohnabhängigen – Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, Polizist*innen, Manager*innen, Hauptamtlichen in Jugendverbänden etc. – zu beschreiben, ist eine der wichtigen Aufgaben moderner Klassentheorie. Einer der für mich überzeugendsten Vorschläge ist Nicos Poulantzas‘ Konzept von der polarisierten Zwischenklasse. Ihre Funktion in kapitalistischen Gesellschaften besteht darin, das Funktionieren der Klassengesellschaft als Ganzes ideologisch und politisch abzusichern und die zahlreichen Strukturaufgaben zu erfüllen, die in diesen Gesellschaften und ihren entwickelten Großunternehmen anfallen. „Zunehmend wird sie auch Auffangbecken für überflüssige potentielle Arbeiter*innen, für die das Kapital keine Arbeitsplätze hat. Statt arbeitslos zu werden, verrichten sie meist staatlich finanzierte Bullshit-Jobs.“ Mitglieder dieser Zwischenklasse teilen die Eigenschaft der Lohnabhängigkeit, sind aber ganz anders in den gesellschaftlichen Klassenkonflikt eingebunden als unmittelbar ausgebeutete und mehrwertproduktive Arbeiter*innen – auch wenn letztere manchmal besser bezahlt werden. 

Polarisiert ist diese Zwischenklasse deshalb, weil der Kapitalismus weiterhin auf der Ausbeutung von Arbeit und Vermehrung von Kapital basiert und sich alle gesellschaftlichen Klassen damit um den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit gruppieren. Die nach unten polarisierten Segmente der Zwischenklasse machen dabei Erfahrungen, die sie im Klassenkonflikt der Arbeiter*innenklasse näher bringen: Prekarität, Kollektivität in Arbeitsprozessen, körperliche Arbeit oder Unterworfen-Sein unter die Befehlsgewalt von Chefs. Ein Schulleiter und eine Lehrerin werden unterschiedlich zugänglich für ein sozialistisches Klassenbündnis sein – aber beide werden auch potenziell Ideologieelemente teilen, die mit ihrer speziellen Stellung in der Gesellschaft zu tun haben. Beide werden sich mit der Ideologieproduktion ihrer Institution mehr oder weniger identifizieren müssen, um die komplexe geistige und emotionale Arbeit der Erziehung leisten zu können und niemand von beiden macht die unmittelbare Erfahrung, für jemand anderen Gewinn erwirtschaften zu müssen. Die Lehrerin ist dabei aber der Befehlsgewalt der Schulleitung unterworfen, verdient weniger Geld und hat mehr Anreize, sich etwa gewerkschaftlich zu organisieren. Zwischen beiden besteht dennoch eine institutionalisierte Karrierebrücke. Innerhalb der polarisierten Zwischenklasse kann man hoffen aufzusteigen, der Aufstieg aus der Arbeiter*innenklasse gelingt meist nur über Generationen hinweg.

Die oberste Sphäre der Zwischenklasse ist wiederum so nah am Kapital, dass sie praktisch-politisch kaum noch zu unterscheiden sind. Die Einkommen des Topmanagements sind riesig und ihre Verfügungsgewalt über komplexe Unternehmensstrukturen ist umfassend. Selbst wenn sich bei einer Finanzkrise ein paar von ihnen vom Hochhaus stürzen, wird dieser Teil der Zwischenklasse niemals zu uns überlaufen – wie sehr man ihnen auch erklärt, dass es auch ihnen ohne 80-Stunden-Woche besser ginge. Die Aktienbeteiligung von Top-Manager*innen ist dabei Resultat, nicht Grund ihrer Klassenposition. Sie bindet diese stärker ans Unternehmen, aber die gesellschaftliche Stellung des Topmanagements erwächst nicht aus Eigentumsbeteiligung, sondern aus Insiderwissen und praktischer Verfügungsgewalt über gewaltige Mengen an Kapital. Das ist übrigens umgekehrt auch der Grund, warum die Aktienbeteiligung der VW-Arbeiterin diese nicht gleich zur kleinen Kapitalistin macht und das Ende der Klassen bedeutet. Materialismus ist eben auch mehr als der Blick auf ein formales Eigentumsverhältnis.

Bild: Wikimedia Commons

Im 21. Jahrhundert brauchen wir die nach unten polarisierten Teile der Zwischenklasse auf unserer Seite. Erfolgreiche sozialistische Organisationen basierten schon immer auf Klassenbündnissen, in denen die Arbeiter*innenklasse allerdings aufgrund ihrer zentralen Stellung im Kapitalismus die bestimmende Kraft war. Deshalb ist die Diskussion, in der sich die einen aus falscher Selbstreflexion sich nicht mehr „Arbeiter*innenjugend“ nennen wollen, die andere Seite aber abstreitet, dass es einen grundlegenden Klassenunterschied zwischen Doktorant und Paketbotin gibt, so wenig zielführend. Unsere Begriffe dürfen die Unterschiede zwischen Arbeiter*innen und Zwischenklasse nicht zudecken. Denn richtig ist, dass die Linke eine ungute Schlagseite bekommt, wenn in ihr nur noch die Zwischenklasse dominiert. Ich würde behaupten, dass die lange in der deutschen Linken vorherrschende Befürwortung von technokratischen Gebilden wie der EU, eine vollständig defensive Haltung gegenüber Populismus und ein übergroßes Vertrauen in die undemokratischen Elemente bürgerlicher Herrschaft (Gerichte, Grundgesetz, Expert*innenkommissionen) unmittelbares Resultat der Dominanz von Lebenserfahrungen einer Klasse ist, die ganz wesentlich mit der geistigen Bearbeitung und (ideologischen) Absicherung des Status Quo beschäftigt ist. Aus dieser Lebenserfahrung heraus ist es nahegelegt, im Reich der Ideen immer die beste aller möglichen Welten zu fordern, konkret politisch aber jedes Mal sofort zur Verteidigung alles Bestehenden herbeizueilen.

Nur eine sozialistische Organisation, die ihren Verbandsaufbau auf Basis einer fundierten Klassentheorie betreibt, kann dieser Misere etwas entgegensetzen. Alle, die sich auf die Seite der Arbeiter*innenklasse stellen, sind dabei willkommen.

Karl Müller-Bahlke

OV Göttingen