Bildung und Autorität

Konjunkturen der Bildungspraxis

Als ich in den 2000er-Jahren ein sozialwissenschaftliches Studium an einer deutschen Universität absolvieren durfte, war der Seminarbesuch oft eine ambivalente Erfahrung. Einerseits gab es viele spannende und für mich neue Theorien zu lernen. Doch andererseits bekamen wir, die wenigen linken Student*innen im Seminar, nur allzu häufig rassistische, nationalistische und antisemitische Positionen anderer Student*innen zu hören. 

Die Dozent*innen, die durch die Auswahl der Seminarinhalte und der Texte durchaus eine gesellschaftskritische Haltung hatten erkennen lassen, hielten sich in diesen Fällen auffällig zurück. 

In einem Gespräch mit ihnen stellte sich schließlich heraus, woher diese Zurückhaltung rührte.

Die betreffenden Lehrkräfte waren als Student*innen allesamt im Umfeld der Neuen Linken aufgewachsen und die hatte als ihren zentralen Abgrenzungspunkt eine Alte Linke, die sich um die Auffassung von der Notwendigkeit  eines starken Staates und undiskutierbarer Wahrheiten in den Händen der “Partei”, sowie von der Existenz natürlicher Hierarchien  gruppierte. Diese Perspektive war in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts zunehmend in die Kritik geraten.

Neue Haltungen beruhen auf Erfahrungen 

Viele der neuen Befreiungstheorien, auf die wir uns heute beziehen, sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine Kritik an den autoritären Herrschaftspraxen und den unzureichenden Analysen der traditionellen Kommunistischen Parteien entstanden. Kritisiert wurden der Stalinismus und der autoritäre Staatsfetisch des Marxismus ebenso wie das mackerhafte Auftreten seiner szenepolitischen Vertreter*innen. 

Dagegen wurde mehr und mehr die (durchaus berechtigte) Vorstellung gesetzt, dass sich das Wissen um die Strategien der Befreiung in einem gemeinsamen Prozess aus der Bewegung heraus entwickeln müssten – und nicht doktrinär von oben verabreicht werden können. Dieser antiautoritäre Impuls war nicht zuletzt auch eine Folge der 68er-Proteste der Auszubildenden- und Studierendenbewegung.

Galt das richtige Wissen über die Verhältnisse bislang als etwas, das immer schon in den Organisationen vorhanden ist, sollte die autoritäre Weitergabe fertigen Wissens nun durch einen gleichberechtigten „herrschaftsfreien Diskurs“ (so eine Formulierung von Jürgen Habermas) ersetzt werden. 

Dieser Versuch hatte nun aber zur Folge, dass die Dozent*innen, die aus der Neuen Linken kamen, ihre  bisherigen Erfahrungen (die ja zuerst zu dieser praktischen Haltung geführt hatten) nicht mehr in die Diskussion einbrachten – sie fürchteten, selbst  Herrschaft auszuüben. Dabei stellten sie sich nicht selten dümmer, als sie waren. Aber ist es ein herrschaftsfreier Diskurs, wenn am Ende das Ergebnis steht, herrschaftsförmige soziale Phänomene (wie Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus) nicht mehr angemessen zu kritisieren?

Die Wahrheit (in) der sozialistischen Bildungstheorie

Der Widerspruch zwischen dem bereits (in der Bewegung) vorhandenen Wissen und dem individuellen Freiheitswunsch der Beteiligten spiegelt sich auch in unseren Gruppen. Das Selbstverständnis der Institution der Gruppenhelfer*in bezieht sich genau auf diesen Punkt. Gruppenhelfer*innen sollen keine „Gruppenführer*innen“ sein, die der Gruppe erzählen, wo es langgeht und damit die Teilnehmer*innen vollständig dominieren. Gleichzeitig sollen sie der Gruppe durchaus helfen, sich in einem gleichberechtigten Prozess die Welt anzueignen. Sie müssen also irgendwie agieren und auf die Gruppe Einfluss nehmen.

Das gilt einerseits auf einer gruppendynamischen Ebene. Hier ist die Gruppenhelfer*in eine Person, die viel über Gruppenprozesse weiß und deshalb leichter erkennen kann, wenn sich die Gruppe in eine fatale soziale Dynamik verstrickt. Sich auf diese Weise zu verhalten, ist für Gruppenhelfer*innen in unserem Verband selbstverständlich. Aber wie verhält es sich auf einer inhaltlichen Ebene? Inwieweit dürfen ältere, erfahrene Genoss*innen eigentlich ihr Wissen über Herrschaft und Befreiung in das Plenum einbringen, ohne zu dominieren? Und inwieweit müssen sie es vielleicht sogar, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden?

Die sozialistische Bildungstheorie setzt an genau dieser Stelle an und geht in gewisser Weise dialektisch vor. Sie weiß um die Unhaltbarkeit der Verhältnisse innerhalb der kapitalistischen Ordnung. Zugleich weiß sie aber auch, dass wir den Kampf gegen diese Ordnung nur gemeinsam führen können und wir daher die Perspektiven aller brauchen, mit denen wir diesen Kampf gemeinsam führen wollen (und müssen). Darum müssen sie von der sozialistischen Perspektive überzeugt sein. Mehr noch: das, was „die sozialistische Perspektive“ überhaupt ist, verändert sich mit veränderten gesellschaftlichen Realitäten und neuen Erfahrungen, die in diesen Kämpfen gewonnen werden.

Das impliziert zweierlei: einerseits, dass eine Haltung und eine Auffassung vertreten wird, die nicht beliebig ist. Und andererseits, dass diese Position begründet dargelegt werden muss und in der gemeinsamen Debatte kritisier- und veränderbar ist.

Beide Momente kommen nicht ohne einander aus. Denn das, was ich oben leichthin eine sozialistische Perspektive genannt habe, ist ja nicht mehr (aber eben auch nicht weniger) als das vorläufige Ergebnis eines nie endenden Ringens um Befreiung. Dass es die Folge von Erfahrungen und ausgetauschten Argumenten ist, gilt es ebenso ernst zunehmen wie die Tatsache, dass jedes Wissen nur vorläufig ist. Denn schließlich ist der Kampf noch nicht beendet, die Befreiung noch nicht erreicht und alles, was wir als Sozialismus bezeichnen mögen, kaum mehr als Vorschein dessen, was da möglich sein wird. 

Die Gruppe in der sozialistischen Bildungstheorie

Die Frage nach der relativen Objektivität der Wahrheit vermittelt sich in der sozialistischen Bildungspraxis mit der Vorstellung eines gemeinsamen Miteinanders in der Gruppe. In den liberalen Bildungstheorien wird Bildung gedacht als der selbstbewusste Akt eines vereinzelten (zumeist männlichen) Menschen, der sich die Welt aneignet (und dadurch zugleich verändert). 

Im Unterschied dazu wissen wir, dass wir nicht nur mechanisch von außen auf die Welt zugehen, sondern in Beziehungen zu ihr stehen. Wir leben immer in „Beziehungsweisen“ (Bini Adamczak) und unsere Gruppen führen das in ganz besonderer Weise vor. Denn hier diskutieren wir miteinander,  durchdringen Texte, üben Kritik und entwickeln neue Gedanken für unsere Kämpfe. In diesem Sinne ist Bildung aus sozialistischer Perspektive immer ein Gruppenprozess. Wir sitzen nicht nur still im Kämmerlein und erforschen eine anonyme Welt. Wir leben in Gruppen und versuchen die Verhältnisse in denen wir leben (müssen) zu begreifen und zu verändern. Gerade deshalb ist es die Aufgabe der Gruppenhelfer*innen, mit ihrem Wissen nicht hinter dem Berg zu halten oder es der Gruppe gar vorzuenthalten. Dieses wird in der Gruppe kritisch diskutiert und in einem gemeinsamen Prozess weiterentwickelt. 

Der zweite Aspekte ist dabei zentral. Denn gerade wenn Genoss*innen sich schon lange Zeit mit einem Thema beschäftigt haben, neigen sie dazu, „blinde Flecken“ in ihrer Perspektive auf die Welt auszubilden. Sicherlich, sie wissen viel z.B. über die Kapitalismuskritik bei Marx oder das Konzept eines „revolutionären Reformismus“ bei Rosa Luxemburg. Aber das hindert sie nicht daran, manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Sie sind geradezu angewiesen darauf, dass die Gruppe ihnen neue Impulse zum Weiterdenken gibt. 

Es ist also auch für diejenigen im Verband, die sich bereits viel Wissen angeeignet haben, überaus vorteilhaft, wenn sie dieses Wissen mit uns teilen. Denn auch hier gilt: Die Gruppe macht’s.

Juli
OV Göttingen