Revolutionäre jüdische Bildung – Gegen den Faschismus

Stell Dir vor, Du wachst eines Tages auf und findest dich in einer “Spiegelgesellschaft” wieder, in der alle deine Erfahrungen, soziale Normen und all jene Debatten oder Konflikten mit denen Du aufgewachsen bist, entlang zweier Pole dargestellt sind. Die sozialistische internationale Bildung hat dich viele Jahre lang inspiriert, besonders die Idee, dass wir in einer sozialistischen Gesellschaft in Solidarität, in Frieden und als Gleiche leben können. Aber welchen Platz nimmt darin eine sozialistische jüdische Bildung ein? Deutschland ist nicht Israel, vor allem nicht in Bezug auf diese besondere Identität des Judentums und die Auswirkungen, die sie auf die Bildungsarbeit hat. Die historischen Wurzeln des revolutionären sozialistischen Judentums und ihr Einfluss auf sozialistische Bewegungen sind unbestreitbar, werden aber kaum anerkannt und bleiben oft unbeleuchtet.

Sommermachane im Jahr 2021

Jüdisch-Sozialistische Identität und deutsche Ignoranz

In Israel ist die Idee der sozialistischen Jugendbewegungen untrennbar mit der jüdischen Erziehung verbunden. Ich bin mit Stolz auf meine Vorkämpfer*innen in Hashomer Hatzair aufgewachsen, die an vielen Momenten des jüdischen (sozialistischen) Kampfes und Widerstands während des Holocausts teilnahmen sowie von Anfang eine wichtige Rolle in der Geschichte Israels einnahmen. Während man als Sozialist*in in Israel eher ein*e säkulare*r Jüdin bzw. Jude ist und die religiöse Identität in der eigenen Persönlichkeitsbildung ziemlich weit unten angesiedelt, sind die kulturellen und politischen Aspekte des Judentums im Alltag, an Feiertagen, in guten und schlechten Zeiten, in Phasen der Angst und der Hoffnung, im Krieg und im Frieden dennoch stets präsent. Man lernt, die Gesellschaft durch eine rote Brille zu sehen und mit einem aus dem Selbstverständnis als jüdische*r Mensch und Sozialist*in den Finger in die Wunde zu legen – gerade auch unabhängig von Israel oder in Abgrenzung von einem religiösen Verständnis des Jüdischseins.

Ganz anders ist es in Deutschland. Ausgerechnet hier sorgt die formale Bildung nicht dafür, dass dem jüdischen Widerstand erinnert wird, geschweige denn dem linken und kommunistisch-jüdischen Widerstand. Hier wird man als Jüdin oder Jude auf die Rolle als Opfer reduziert, dessen Erbe, Motive und Organisationsformen kaum thematisiert werden. Auf der anderen Seite streiten linke politische Gruppen darüber, ob sie Israel als Staat entweder vollständig unterstützen oder gar boykottieren sollen, da es die schlimmste Politik in der westlichen Welt betreibe (was nicht der Fall ist). Die Debatte ist oberflächlich, aber es wird von allen permanent erwartet, Stellung zu beziehen. Die Idee, sich vom Judentum als Religion politisch inspirieren zu lassen, es aber aus einer sozialistischen Perspektive kritisch zu betrachten, ist hier nicht einmal annähernd bekannt – weder in Bezug auf Israel noch auf den Sozialismus. 

Revolutionäres jüdisches Denken? Wo ist dafür überhaupt Platz?

Als Hashomer Hatzair Deutschland haben wir 2019 daher folgende Vision formuliert:

„Durch außerschulische Bildungsarbeit und diskriminierungskritische Pädagogik versuchen wir, unsere Vision einer freien und gerechten Gesellschaft zu verwirklichen. Wir leben unsere jüdische Identität säkular und stützen uns dabei auf die lebendige Kultur sowie auf Tradition, Geschichte und Religion des jüdischen Volkes und halten die Verbindung zu diesem Erbe aufrecht. Wir schaffen einen sichereren und solidarischen Raum (‚Safer Space‘) – und aus diesem Raum heraus setzen wir uns für eine gerechtere Gesellschaft ein.“

Impulse für jüdisch-sozialistische Bildungsarbeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust schrieb Theodor W. Adorno in seinem Artikel „Erziehung nach Auschwitz“, dass es zwei Bereiche gibt, die für die Erziehung relevant sind: zum einen die Erziehung der Kinder, vor allem in der frühen Kindheit; zum anderen die allgemeine Aufklärung, die für ein geistiges, kulturelles und soziales Klima sorgt, in dem eine Wiederholung nicht mehr möglich wäre. Ein gesellschaftliches Klima also, in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, bewusst werden und dementsprechend veränderbar sind.

In der Vergangenheit, aber noch mehr in der Gegenwart, ist es wichtig, Kindern und Jugendlichen einen anderen Weg als den der formalen (Schul-)Bildung aufzuzeigen. Indem wir zeigen, dass eine andere Gesellschaft möglich ist, erziehen wir die nächste Generation dazu, sich der Realität zu widersetzen, die sie in ihrem Alltag kennt – der Realität einer Gesellschaft, die antisemitisch und rassistisch ist und sich auf eine neue Welle des Faschismus in unserer Zeit zubewegt. Daher sind die Überlegungen von Adorno und Buber wichtige Bezugspunkte für unsere pädagogische und politische Arbeit bei Hashomer Hatzair Deutschland. 

Letztendlich ist die jüdisch-sozialistische Bildung ein notwendiger Bestandteil der sozialistischen Bildung als Ganzem. Ihre Geschichte, Gegenwart und vor allem Zukunft sind für eine erfolgreiche Revolution notwendig. Als Sozialist*innen lassen wir uns von dem Sinn für die politische Gemeinschaft als Freie und Gleiche inspirieren, von der Idee eines gemeinsamen Schicksals in einer gerechten und herrschaftsfreien Gesellschaft. Es ist auch gespeist aus der Liebe zu den Menschen und dem Kampf gegen die aufgezwungenen herrschaftlichen Spaltungen, die uns auseinanderdividieren.

Ken Mannheim im Jahr 1934

Sozialistische Erziehung braucht eine jüdische Perspektive

Noch nie seit 1945 war es so wichtig, antifaschistische Bildung zu unterstützen, von ihr zu lernen und sie weiter voranzubringen. Antifaschismus muss in jedem Aspekt unserer politischen Bildung vorhanden sein und ständig reflektiert werden –  kann nie vollständig “expertisiert“ werden. Als Pädagog*innen haben wir die Verantwortung, ständig zu lernen und uns zu verändern. Jede*r kann scheitern und Fehler machen; es kommt darauf an, daraus zu lernen und sich selbst zu reflektieren. Wir wollen nicht so tun, als könnten wir vor der kapitalistischen Gesellschaft davonlaufen und ihren Widersprüchen auf diese Weise entkommen. Vielmehr können wir durch einen Bildungs- und Diskussionsprozess unsere Entschlossenheit und unser Verständnis für die Welt außerhalb unserer Bewegung stärken, um einen politischen Wandel zu unterstützen, durch den die kapitalistische Gesellschaft der Vergangenheit angehört.

Bildung muss uns Hoffnung und nicht Angst lehren. Sie muss uns lehren, wozu der Faschismus fähig ist, aber auch, wie ihm entgegengetreten werden kann und dass eine herrschaftsfreie Zukunft möglich ist. Und wir müssen uns fragen: Ist Bildung gegen Rassismus und Antisemitismus – die antifaschistisch und antikapitalistisch sein muss – nicht begrenzt, wenn sie nicht gemeinsam mit den Menschen realisiert wird, die das Thema aus Erfahrungen der Abwertung, Ausschließung und Unterdrückung kennen oder mit kollektiven Traumata kämpfen? Um eine umfassendere, ausgewogene und klare Position zur Bekämpfung von Antisemitismus zu entwickeln, braucht die sozialistische Bewegung jüdische Linke. Sonst laufen Gefahr, die immer gleichen Fehler zu wiederholen. Die Stimme des sozialistischen Judentums muss unterstützt werden, ihr Gehör verschafft werden. Mit uns kann unsere Bewegung nur stärker werden.

Nitzan Menagem ist Mitglied der Falken Sachsen und Vorsitzende der jüdisch-sozialistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair (auf hebräisch “Der junge Wächter”) in Deutschland. 


Im Jahr 2022 jährt sich die 10-jährige Wiedergründung von Hashomer Hatzair in Deutschland, die bereits in den 1930er Jahren mit zahlreichen Gruppen bis zum Verbot und der Verfolgung durch den Nationalsozialismus aktiv waren. Im Zuge dieses Jubiläums wurde 2022 ein Geschichtsprojekt gestartet, um die Spuren der vorherigen Generationen zu erforschen. Wenn ihr Interesse habt, den Ken Berlin (“Ken” bedeutet auf hebräisch Nest und Jugendzentrum) kennenzulernen, meldet Euch gerne: info@hashomer-hatzair.de
Um auf dem Laufenden zu bleiben:
https://linktr.ee/HashomerHatzairDE


Adorno, selbst ein Kind assimilierter Juden, lieferte in seinen Schriften ein praktisches Beispiel für die Umsetzung der Idee des sozialistischen Judentums. Für Hashomer Hatzair Deutschland sind außerdem die Arbeiten von Martin Buber sehr prägend. Als österreichischer Juden und israelischer, anarchistischer und sozialistischer Philosoph ist er vor allem für seine “Philosophie des Dialogs” bekannt ist. Er stellte fest: „Die Jugend ist die ewige Möglichkeit der Menschheit zum Glück. Diese Möglichkeit tritt immer wieder auf, und die Menschheit verpasst sie immer wieder.“ Sein Einfluss auf den jüdischen Sozialismus ist ebenfalls unbestreitbar. Aber Buber gehört zu dieser vergessenen Geschichte in Deutschland: 1930 wurde er Honorarprofessor an der Universität Frankfurt am Main, legte seine Professur aber aus Protest sofort nieder, als Adolf Hitler 1933 an die Macht kam. Im Jahr 1938 verließ Buber Deutschland und ließ sich in Jerusalem nieder.