In der Ausgabe 2/2018 beleuchtete Maria Neuhauss unter dem Titel „Frauen und Politik – ein Spannungsverhältnis“ die Frage, warum Mädchen und Frauen im Verband immer noch unterrepräsentiert sind, wenn es um das „Politik machen“ geht, also das Schwingen großer Reden auf Konferenzen oder dem selbstbewussten Positionieren im politischen Geschehen. Als Gründe erkannt werden die „männlichen, aber nicht immer menschlichen Formen des Politikvollzugs“, die weibliche Sozialisation, die immer noch vor allem auf Harmonie und Dienstleistung für andere ausgerichtet ist, sowie der systematische Ausschluss von Frauen aus der Politik seit der Antike: über die Gemeinschaft als Ganze hatten nur Männer zu sprechen, Frauen durften höchstens ihre Partikularinteressen vertreten. Dem stellt Maria u.a. ein Programm entgegen, dass Mädchen und Frauen dabei helfen soll, „fertige politische Subjekte“ zu werden.
Natürlich soll der schlechte Status quo nicht fortbestehen und natürlich sollen Jungen und Männer dafür nicht weniger über Politik reden, sondern Mädchen und Frauen mehr. Und doch kommt es mir nicht so vor, als wäre Versöhnung eingetreten, wenn sich der Anteil von Mädchen und Frauen in den Gremien, auf Konferenzen und auf den Redner*innenlisten auf die Hälfte erhöhen würde.
Politik ist (zumindest im Kapitalismus) immer nur eine Seite eines Gegensatzpaares: das Allgemeininteresse in Abgrenzung zum eigenen Interesse. Marx nennt das die Sphäre des Citoyens, also des Staatsbürgers, gegenüber der des Bourgeois, also des egoistischen Marktsubjekts. Allgemeininteresse und individuelles Interesse schließen sich häufig gegenseitig aus und doch sind die Menschen im Kapitalismus gezwungen, sich gleichermaßen für beides einzusetzen. Beispielsweise hat man als Arbeitnehmer*in ein Interesse an höherem Lohn (Partikularinteresse), könnte aber nie so viel fordern, dass der Profit zu gering ausfällt (Rücksicht auf das Allgemeininteresse). Denn da nur der Profit der Grund der Produktion ist, ist der Arbeitsplatz sonst schnell ganz weg. Genauso will zwar jede*r, dass der Staat einen selbst in Ruhe lässt, aber gegen alle anderen soll er schon durchgreifen. Und dafür muss er bestehen und durchsetzungsfähig sein. Deswegen geht Marx davon aus, dass Staatsbürger und Bourgeois gleichermaßen in jeder und jedem stecken: der Kapitalismus zwingt uns alle in diese Doppelrolle hinein.
Dieses „Wollenmüssen“ sich gegenseitig ausschließender Interessen macht sich in der Wirklichkeit aber keineswegs bei allen Menschen gleichermaßen geltend. Systematisch werden Frauen* davon abgehalten, das Allgemeininteresse zu vertreten und auf das Partikularinteresse reduziert. Dieser Dualismus trennt zudem nicht nur Politik von Wirtschaft oder Privatleben, sondern zeigt sich auch innerhalb dieser Bereiche immer wieder, egal wie weit man „hineinzoomt“. Innerhalb der „kleinsten Zelle der Gesellschaft“, der Familie, gehen Männer* häufiger arbeiten und Frauen* machen eher den Haushalt; in der Lohnarbeit haben Frauen* seltener Managementposten oder MINT-Jobs und so weiter. Marx zeigt, dass selbst die einzelne Ware von diesem Dualismus beherrscht wird.
Mit dieser Reduktion von Frauen* auf das Besondere gehen viele Nachteile einher wie geringeres Ansehen, geringere Entlohnung, Abhängigkeitsverhältnisse oder fehlende Entfaltungsmöglichkeiten für „männliche“ persönliche Fähigkeiten.
Natürlich soll das alles aufhören.
In Marias Artikel erscheint die „männliche“ Politik jedoch als Ideal, als etwas, dem sich jede* und jeder* am besten ständig widmen sollte. Sieht man die Politik jedoch als nur eine Seite eines Gegensatzpaares an, sollten wir so wenig Politik wie möglich machen, um als Verband nicht selbst einseitig zu werden. Sonst können wir die Aufhebung der Spaltung des gesellschaftlichen Lebens in Männer und Frauen, privat und öffentlich, Gebrauchswert und Tauschwert, Staat und Gesellschaft, körperliche und geistige Arbeit usw. noch nicht einmal ein Stück weit vorwegnehmen.
Deswegen scheint mir die Unterrepräsentation von Frauen* im politischen Leben des Verbandes auf einen Mangel der Politik selbst hinzuweisen. „Politik“ umfasst eben nicht das gesamte bewusste Gestalten des (Verbands-)Lebens. Vielmehr sind manche Lebensbereiche aufgrund dessen, was Politik ist, gar nicht politisch thematisierbar. Beispiele wären die konkrete Umsetzung des Beschlossenen, das wirklich Konkret-Individuelle, das nicht in Argumentform Verallgemeinerbare und das Unlogische außen vor. So sind Emotionen und Bedürfnisse nicht verhandelbar, an sich sind alle gleichermaßen berechtigt. Interessiert man sich nicht für Politik, heißt das also nicht, dass man sich für nichts „Wichtiges“ interessiert. Weil Politik selbst beschränkt ist, bleiben genauso notwendige Sachen übrig. Trainiert man sich das Politik machen an, trainiert man sich zugleich etwas ab. Wer in Formen wie der der Politik denkt, “hat das Kapital intellektuell reproduziert und in sich akkumuliert” (Bruhn).
Unser Zusammenleben, unsere Gruppenstunden und Zeltlager kommen mir so wertvoll vor, weil sie die Spaltung durchbrechen, die Aufhebung der Widersprüche zumindest andeuten. Das sollten wir nicht zugunsten des Politikmachens aufgeben. Wir sollten alle keine „fertigen politischen Subjekte“ werden.
Jan Schneider, KV Weimar