Warum das Proletariat nicht nur am Fließband steht, sondern auch im Hörsaal sitzt
Der 16.01.2018 ist ein fast historischer Tag, denn zum ersten Mal seit 32 Jahren gehen die studentischen Beschäftigten der Berliner Unis wieder auf die Straße und streiken für die Anpassung ihres Tarifvertrags. Sie arbeiten in den Bibliotheken, in den Verwaltungen und im technischen Dienst und insbesondere leiten sie begleitende Kurse zu den Vorlesungen (Tutorien), in denen Studierende sich auf die Klausuren am Semesterende vorbereiten. Seit 17 Jahren gab es keine Lohnerhöhung, das Weihnachtsgeld wurde ihnen schon vor Jahren gestrichen und sie haben eine Woche weniger Urlaub als die anderen Mitarbeiter*innen der Universitäten. Wenn man bedenkt, dass sie bei seit Jahren steigenden Mieten und stetiger Inflation etwa 30% Reallohnverlust hatten, fragt man sich, warum es so lange gedauert hat, bis es zum Arbeitskampf kommt.
17 Jahre stillgehalten – aber warum?
Dafür gibt es aus meiner Sicht zwei Erklärungen: Zum einen geht es den studentischen Beschäftigten in Berlin relativ gut. Es gibt nur hier einen eigenen Tarifvertrag (ein Ergebnis der Streiks Ende der 1980er Jahre), während Hilfskräfte in anderen Bundesländern lediglich als „Sachmittel“ geführt werden – also genau wie Kosten für Büromaterial. Der Stundenlohn von 10,98€ liegt deutlich über dem Mindestlohn und die Arbeit an den Hochschulen lässt sich gut mit dem Studium vereinbaren. Trotzdem kann man bei einem Monatslohn, der bei einer 10-Stunden-Woche etwa bei 450€ liegt, inzwischen kaum noch die Miete für das WG-Zimmer bezahlen. Die Preise stiegen in den letzten Jahren immer mehr, so dass der Druck auf die Beschäftigten wuchs und sich jetzt in den Streiks entlädt.
Zum anderen lässt sich das lange Stillhalten aber auch daraus erklären, dass nur wenige Studierende gewerkschaftlich organisiert sind. Generell sind junge Leute, also auch Auszubildende und Berufsanfänger*innen, seltener Gewerkschaftsmitglieder, aber bei Studierenden ist der Anteil noch einmal geringer. Das kann verschiedene Gründe haben, aber einer davon ist definitiv in der Wahrnehmung von Studierenden zu suchen, die sich als Akademiker*innen sehen, nicht aber als (künftig) lohnabhängige Beschäftigte.
Arbeiter*in oder Akademiker*in?
Diese Wahrnehmung ist ebenso falsch wie verbreitet, auch bei uns im Verband. Da heißt es dann oft, man würde sich zu sehr mit Studierenden und Akademiker*innen beschäftigen, und zu wenig mit Kindern aus Arbeiter*innenfamilien und Arbeiter*innen. Der hier aufgemachte Widerspruch ist keiner. Auch Kinder aus Arbeiter*innenmilieus gehen studieren, sind dabei oft unterrepräsentiert und haben in der Regel kein Wissen über universitäre Abläufe, auf das sie in der Familie zurückgreifen können. Ihnen dann als Organisation der Arbeiter*innenjugend die Unterstützung zu verweigern, weil sie ja jetzt Akademiker*innen seien, fällt ihnen schlicht in den Rücken.
Auch nach dem Studium besitzen Akademiker*innen in der Regel keine Produktionsmittel, sondern müssen ebenso wie die gelernte KFZ-Mechatronikerin oder der Kaufmann für Bürokommunikation ihre Arbeitskraft verkaufen. Während ihrer Ausbildung, die im Falle eines Master-Abschlusses zuzüglich Abitur mindestens 7 Jahre länger war als bei einem Mittleren Schulabschluss, haben sie in der Regel kein Geld bekommen, sondern mussten zusätzlich arbeiten gehen oder haben Bafög bekommen. Im zweiten Fall stehen sie dann aber auch mit bis zu 10.000€ Schulden da.
Auch eine spätere wissenschaftliche Laufbahn an einer Hochschule bedeutet nicht, dass man auf einmal aufhört, Teil der Arbeiter*innenklasse zu sein. Nur weil man am Rechner sitzt anstatt am Fließband zu stehen, ist man nicht weniger dazu gezwungen, sich in ein Ausbeutungsverhältnis zu begeben – auch wenn der erarbeitete Mehrwert, vor allem in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, schwerer zu messen ist als in der Automobilindustrie. Wir reden an dieser Stelle übrigens von Verträgen, die in aller Regel auf wenige Jahre oder noch kürzer befristet sind, die Arbeitszeiten definieren, die für die Masse an Aufgaben nicht reichen und am Ende des Monats einen Lohn abwerfen, mit dem man auch in günstigen Städten kaum noch die Miete zahlen kann. Am Ende ist man Mitte 30 und hat zwar einen Doktortitel, weiß aber nicht wohin damit und fragt sich, warum man es nicht wie die Freundin aus der Schule gemacht hat, die nach einer abgeschlossenen Ausbildung heute bei VW arbeitet und neben dem Lohn auch noch Ausschüttungen aus den Konzernaktien verdient.
„…weil du auch ein Arbeiter bist!“
Das Problem liegt aber nicht nur allein in einer Linken, die unter Arbeiter*innenklasse und Proletariat nur an die Beschäftigten in der Produktion denkt, sondern auch an einem falschen Selbstbewusstsein der Studierenden: Wer studiert, geht (zumindest in den allermeisten Fällen) davon aus, sich jenseits der Arbeiter*innenklasse zu bewegen. Schließlich hat man nach der Schule keine Ausbildung begonnen, sondern sich für die höhere Bildung entschieden. Dass das eine mit dem anderen wenig zu tun hat, und die akademische Ausbildung bestenfalls den Wert der eigenen Arbeitskraft erhöht, wird dabei nicht gesehen und zu oft nicht gewusst.
Klassenzugehörigkeit definiert sich nicht an einem subjektiven Gefühl zur jeweiligen Form der Lohnarbeit, sondern danach, wo man sich im Verhältnis kapitalistischer Verwertung befindet. Ob man seine Arbeitskraft verkauft, um Straßen zu bauen oder um Seminare an der Uni zu leiten, ist für diese Zugehörigkeit jedoch unerheblich. In Anlehnung das Manifest der Kommunistischen Partei: „Proletarier*innen aller Branchen, vereinigt euch!“
Steffen Göths, LV Brandenburg