„Sind Mädchen und Frauen unpolitisch?“, fragte Ulla Ohlms 1978 in den Schlaglichtern, dem damaligen Debattenorgan der Falken. Angesichts der Tatsache, dass Frauen in Vorständen, Ausschüssen und Konferenzen unterrepräsentiert waren und auch „die großen Konferenzreden, die langen Diskussionsbeiträge, die Ausarbeitung von Anträgen und Beschlüssen […] weitgehend Sachen männlicher Betätigung“ blieben, schien die Frage nicht abwegig. Sie wirkte umso drängender, als die Falken die prinzipielle Gleichwertigkeit von Mann und Frau nicht nur auf den Lippen tragen wollten. Der schlechte Status quo provozierte also Erklärungsbedarf.
In Beantwortung der Frage legte Ohlms dar, inwiefern die Einseitigkeit des herrschenden Politikverständnisses dazu führe, dass die durchaus vorhandene politische Orientierung und Tätigkeit vieler Mädchen und Frauen unterschlagen werde: „Gilt nicht fälschlicherweise derjenige als besonders politisch, der die langwierigsten und langweiligsten Gremiensitzungen mit stoischer Ruhe über sich ergehen läßt? […] Vielleicht ist die Verweigerung von Mädchen und Frauen [gegenüber der Gremienarbeit, M.N.] eine stumme Auflehnung gegen die männlichen, aber nicht immer menschlichen Formen unseres Politikvollzuges.“Weiterhin würde, so Ohlms, die weibliche Sozialisation Mädchen die Teilnahme an politischen Debatten und Entscheidungsprozessen erschweren. Die weit verbreitete Orientierung darauf, anderen Zuwendung, Liebe und Hilfe zukommen zu lassen, würde ihre selbstbewusste Positionierung im politischen Geschehen untergraben: „Wo Bestätigung und Anerkennung vorrangig aus der Dienstleistung und Bedürfnisbefriedigung für andere erlangt wird, da rangiert das Selbstwertgefühl auf den letzten Plätzen.“Unsicherheiten und Ängste prägten daher das Verhalten vieler Mädchen und Frauen in Bezug auf das Verbandsleben.
Zusammengefasst argumentiert Ohlms, dass die durchaus vorhandene politische Orientierung von Mädchen und Frauen durch erschwerte Bedingungen am Ausdruck gehindert werde. Dabei fasst sie die Abstinenz von Mädchen und Frauen in der Gremienarbeit einerseits als durchaus berechtigte „Abstimmung mit den Füßen“ gegen bestimmte Formen des Politikvollzugs auf und begreift sie andererseits doch als Mangel, dem durch eine entsprechende pädagogische Arbeit Abhilfe geleistet werden sollte. Die Frage, ob Mädchen und Frauen unpolitisch seien, beantwortet Ohlms trotz dieser Ambivalenzen jedoch eindeutig mit einem Nein.
Nun hat sich seit 1978 einiges geändert. Der weibliche Anteil im Bundesvorstand der Falken ist seit den 1990er Jahren deutlich gestiegen – derzeit haben wir sogar zwei weibliche Bundesvorsitzende. Auf den verschiedenen Ebenen des Verbandes sind stets sprachfähige Frauen zu finden, die die Verbandsausrichtung (mit-)gestalten. Allerdings existiert meines Erachtens nach wie vor ein Spannungsverhältnis zwischen Frauen und der politischen Sphäre, welches zudem tiefer reicht, als Ohlms es beschrieben hat. So sind ähnlich wie die Parlamente der Bundesrepublik Bundeskonferenzen und Bundesausschüsse der Falken nach wie vor eher männlich besetzt (sowohl, was die Anwesenheit, als auch was die Redebeiträge anbelangt). Dabei kommt es außerdem zu der regelmäßig wiederkehrenden Situation, dass Genossinnen einmal mehr nur über das „Wie“, nicht aber über das „Was“ einer politischen Debatte sprechen wollen, oder ich und andere erneut „nur“ zu Feminismus etwas zu sagen haben. Fasst man das Problem als den unzureichenden Ausdruck durchaus vorhandener politischer Orientierungen, so greift das meines Erachtens zu kurz.
Das Geschlecht der politischen Öffentlichkeit
Natürlich sind Frauen nicht aufgrund einer selbstbewussten Entscheidung oder zufällig anders gelagerter Interessen häufig so still, wenn es um Politik geht. Im Gegenteil: Die Behauptung, es läge doch einfach an den Frauen, sich politisch einzubringen, wäre derart geschichts- und gesellschaftsvergessen, dass sie das Unrecht nur verdoppeln würde. Vielmehr zeigt ein Blick in die Geschichte, dass Frauen über Jahrhunderte hinweg in Bezug auf politische Angelegenheiten regelrecht mundtot gemacht wurden. Die Historikerin Mary Beard etwa zeigt in „Frauen und Macht. Ein Manifest“, wie schon im alten Griechenland die mit der politischen Öffentlichkeit untrennbar verbundene Redekunst dem Mann vorbehalten war. „Öffentliche Rede war ein – wenn nicht das – entscheidende Attribut von Maskulinität.“ Die weibliche Stimme wurde demgegenüber abgewertet: Frauen „zeterten“ und „kreischten“ und sollten sich, so die unterschwellige Botschaft, am besten gar nicht öffentlich zu Wort melden. Einzig als Opfer von Gewalt oder zur Verteidigung ihres Heimes, ihrer Kinder, ihres Mannes oder ihrer Geschlechtsgenossinnen war es Frauen erlaubt, sich öffentlich zu äußern. „Frauen durften also unter extremen Bedingungen öffentlich ihre partikularen Interessen vertreten, nicht aber für Männer oder die Gemeinschaft als Ganze sprechen.“ Diese Beschränkung gilt (in deutlich abgeschwächter Form) bis heute. Dies belegen etwa die negativen Erfahrungen vieler Journalistinnen: „Die Reaktionen auf Artikel weiblicher Autoren sind aggressiver, und das unabhängig vom Thema,“ schrieb Bettina Weber im Tagesanzeiger.
Dennoch denke ich nicht, dass wir an diesem Punkt stehen bleiben sollten. Zum einen schmeckt das Beharren auf dem eigenen Opferstatus zu sehr nach der Rolle des Klageweibs, das das Patriarchat seit jeher begleitet, ohne ihm gefährlich geworden zu sein. Wollen wir, dass sich etwas ändert, so müssen wir selbst zur Tat schreiten. Zum anderen scheint mir die Vorstellung irreführend, Frauen wären schon fertige politische Subjekte, die nur am Ausdruck gehindert würden (sei es durch sozialisationsbedingte Unsicherheiten, sei es durch die Beschränkung von außen). Tatsächlich müssen sich auch Frauen bei den Falken die Frage stellen lassen, wieso sie sich häufig über die Redezeiten und die stärkere Präsenz der Männer beschweren, selbst aber kaum Schritte dahin tun, sich die (eher) männlich besetzten Räume und Themen anzueignen. Bisweilen lässt mir diese Inaktivität den Zorn auf Männer etwas projektiv erscheinen, als Ablenkung von einer unterschwellig empfundenen Lücke zwischen der Realität und der Vorstellung, wir wären doch schon alle gleich. Frauen sind (wie die meisten Männer) häufig eben nicht politisch kompetente Theoretikerinnen und Aktivistinnen, die lediglich daran gehindert werden, ihre Qualitäten zu präsentieren, sondern tragen als Unterdrückte die Male ihrer Unterdrückung – etwa eine im Vergleich mit Männern größere Distanz zu politischen Themen.
Ich glaube, dass ahnen wir alle, und es frustriert – zu Recht. „Wir sind neidisch und wir sind traurig gewesen“, schrieb 1967/68 der Aktionsrat zur Befreiung der Frau und sprach damit das Gefühl vieler Genossinnen der Studentenbewegung aus, denen das Aufschließen an ihre männlichen Mitstreiter nicht so recht gelingen wollte. Vielleicht kämen wir weiter, wenn wir uns diese Frustration auch heute bewusstmachen würden, um sie dann politisch zu bearbeiten, anstatt sie zu verleugnen. So ist der jahrhundertelange Ausschluss aus der politischen Sphäre eben nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Wer nicht gehört wird, der verliert auch das Interesse daran, überhaupt etwas zu sagen, und das schlägt auch auf den Geist zurück. Wieso sich über Dinge den Kopf zerbrechen, wenn sowieso keiner hören will, was wir dazu zu sagen haben? Dieses Problem betrifft bei weitem nicht nur Frauen, aber es betrifft Frauen in besonderer Art und Weise.
Eine politische Kultur unter Frauen schaffen
Wollen wir etwas daran ändern, so, denke ich, kommen wir um die Etablierung einer politischen Kultur unter Frauen nicht herum. Das heißt, dass wir uns (gegenseitig) dazu anspornen sollten, über den Tellerrand hinauszublicken und uns mit Themen auseinanderzusetzen, die wir allzu häufig anderen überlassen. Fragen wie Kapitalismus, Krise, Ökologie usw. betreffen, ob wir wollen oder nicht, auch uns und daher müssen wir uns um unseretwillen auch damit auseinandersetzen. Wir sollten uns gegenseitig für unsere Ansichten dafür interessieren, wir sollten sie ausdrücken, uns zuhören und miteinander darüber streiten. Das heißt eben nicht, sich unter bzw. mit Mädchen und Frauen automatisch feministischen Themen zu widmen. Stattdessen sollten wir uns auch aller möglichen relevanten Probleme annehmen, die sonst an Männer (mehr oder weniger unbewusst) „ausgelagert“ werden. Dies muss auch davon begleitet werden, Konfliktfähigkeit und Durchsetzungsstärke von Mädchen zu fördern – und sie gegenseitig an uns zu tolerieren.
Das Programm, das für das „Frauen*-Theorie-Seminar“ entwickelt wurde, muss also ausgeweitet werden. Denn politisches Subjekt zu sein, das ist uns nicht nur zuzugestehen; diesen Anspruch müssen wir auch für uns selbst einlösen.
Maria Neuhaus, LV Thüringen