Am 22. Juli postete der Bundesverband auf Facebook ein Video anlässlich des 9. Jahrestags des Anschlags von Utøya und Oslo. Dass darin die eigenen Gefühle und die Namen der Opfer die zentrale Rolle spielen, erscheint mir jedoch aus mehreren Gründen kritikwürdig. Im Video lesen viele verschiedene Genoss*innen jeweils einen Namen sowie das Alter der 77 Getöteten vor, ergänzt um eine politische Erklärung zu Beginn und am Ende des Videos. Im ersten Teil dieser Erklärungen heißt es unter anderem, dass wir unserer Trauer und unserer Wut Raum geben wollen, dass wir keine*n der Ermordeten vergessen und in ihrem Andenken unseren Kampf für eine befreite Gesellschaft fortsetzen. Am Ende geht es unter anderem darum, dass wir in Gedanken bei ihren Freund*innen, bei ihren Angehörigen und bei den Überlebenden sind und dass wir uns noch immer die Zeit nehmen müssen, das Geschehene zu verarbeiten.
Schon grundsätzlich bin ich etwas skeptisch, was die Echtheit der bekundeten Trauer angeht. Zunächst lassen mich die objektiven Umstände daran zweifeln. Denn erfahrungsgemäß verfolgt politische Interessen, wer im politischen Kontext öffentlich und gerade nicht nur im Familien- und Freundeskreis Gefühle äußert. Auch wenn Trauer natürlich auch zu konkreten Anlässen auftauchen kann, finde ich es doch auffällig, dass diese jedes Jahr pünktlich zum Jahrestag des Anschlags bekundet wird, während das restliche Jahr über nicht die Rede davon ist. Abgesehen von 2015 reichte sie auch stets nur für ein paar Zeilen auf Facebook. Dass dieses Jahr ein aufwändiges Video produziert wurde, liegt wohl nicht daran, dass jetzt die Trauer größer ist als früher, sondern eher daran, dass nächstes Jahr Gedenkveranstaltungen zum Thema Utøya stattfinden sollen, für die Werbung gemacht werden soll.
Darüber hinaus fühle ich mich auch subjektiv nicht in erster Linie traurig, weil ich die ermordeten jungen Menschen persönlich gar nicht kenne. Ich habe Mitleid mit den Familien und Freund*innen der Getöteten, wenn ich mich, soweit es geht, in sie hineinversetze und versuche, mir vorstellen, wie schlecht es ihnen gegangen sein muss und vielleicht immer noch geht. Ich bin wütend, wenn ich mich mit dem Täter beschäftige und seine menschenverachtenden Aussagen höre. Und ich bin betroffen, wenn ich mir vorstelle, dass es mich oder meine Freund*innen und Bekannten von den Falken, den Jusos oder andere Linke treffen könnte. Mein Punkt ist: es fällt mir schwer, mir vorzustellen, um die Getöteten als Individuen zu trauern. Genau das ist jedoch der Ansatz des Videos.
Allerdings hat es mich traurig gemacht, mir die emotional vorgetragenen Namen sowie das Alter der Ermordeten anzuhören. Ich würde sagen, das liegt daran, dass das Video genau darauf angelegt ist: Trauer und Emotionalität hervorzurufen, obwohl es vorgeblich der vorher schon vorhandenen Trauer bloß Ausdruck verleihen soll. Auch deswegen denke ich, dass das Video in erster Linie ein Werbevideo für die Utøya-Fahrt und im weiteren Sinne für die politischen Ansichten der Falken ist. Genau wie in jeder anderen Werbung werden Emotionen erzeugt und diese dann mit dem eigenen Produkt verknüpft. Das zeigt sich meiner Meinung nach auch daran, dass man nur wenige Worte im Video austauschen müsste, um die Namen der Ermordeten nicht mit der Politik der Falken und der Utøya-Fahrt zu verknüpfen, sondern beispielsweise mit der Forderung nach schärferen respektive lockereren Waffengesetzen oder nach mehr Polizei und stärkerer Überwachung der Bürger*innen. Oder noch abgeschmackter: es würde genauso gut funktionieren, mit den Namen der Getöteten Werbung für Waffenhersteller zu machen, weil sich die Jugendlichen mit ihren Produkten ja hätten verteidigen können. Denn das Video tut nur so, als würde aus dem Tod der jungen Menschen unmittelbar die Legitimation für Sozialismus und Linksradikalismus folgen. In Wahrheit folgt aus Namen, Alter und Anzahl der Ermordeten an sich aber natürlich keine einzige politische Maxime. Unsere Überzeugung, dass die kapitalistische Gesellschaft Rechtsradikalismus und die aus ihm folgenden Mordtaten immer wieder hervorbringen wird, ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Mord, sondern aus der rationalen Reflexion der Tat und dem Nachdenken über die Gesellschaft, in der dieser Mord geschah. Eine solche Reflexion kann ein Ansatz, der die Opfer als Individuen in den Mittelpunkt rückt nicht nur nicht, sondern bewirkt sogar eher das Gegenteil, indem es vor allem Emotionen hervorruft. Daher kommt das Video radikal daher, ist es in meinen Augen aber in Wahrheit nicht – was sich daran zeigt, dass sogar der Bundespräsident zum Anschlag in Hanau einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgen kann, um für genau die Demokratie Werbung zu machen, die den rechten Terror hervorbringt.
Und sogar noch mehr: dieser Unmittelbarkeitsgedanke führt dazu, dass die getöteten jungen Menschen mit ihrem Namen, also als Individuen, für die eigene Politik eingespannt werden. Verfolgen Nazis die Strategie, die Namen von Opfern für ihre Politik zu gebrauchen, wird das von Links sehr deutlich verurteilt und die angebliche Trauer der Nazis klar als politische Propaganda benannt. Beispielhaft dafür ist der Fall des im August 2018 in Chemnitz getöteten Daniel H., nach dessen Tod es zu den vieldiskutierten Hetzjagden kam. Die Nazis erklärten ihn zum aufrechten Deutschen, der Frauen gegen Geflüchtete verteidigt und stellten Kerzen, Grablichter, Trauerkarten und Blumen an den Tatort, während Linke und Bürgerliche darauf hinweisen, dass Daniel H. “gegen Hass” und “gegen jeden Fanatismus” war und die Trauer von rechts in Wahrheit Instrumentalisierung. Natürlich ist das bei den Opfern des Anschlags von Utøya damit nicht gleichzusetzen. Schließlich ist die AUF, der Jugendverband der norwegischen Sozialdemokraten, deren Camp angegriffen wurde, ja eine linke Organisation und die Getöteten waren linke Jugendliche und junge Erwachsene. Aber Linke sind ja auch kein homogener Block und ich würde mit meinem Namen nicht gerne in einem Facebook-Post wie dem des Bundespräsidenten vorkommen.
Jetzt könnte man einwenden, dass zu Beginn des Videos ja heißt, dass die Namen nicht etwa genannt werden, um Emotionen zu erzeugen, sondern weil „die Mitte der Gesellschaft“ von Terroranschlägen wie dem von Utøya „nichts wissen will“ und die Opfer vergisst, weswegen wir ihre Namen nennen müssen, um gegen das Vergessen anzukämpfen. Abgesehen von der Floskel „kämpfen“, die jedem politischen Ziel sofort den Anstrich von Radikalität geben soll, beruht die Aussage allein auf dem typisch linksradikalen rhetorischen Trick, „der Mitte“ alles Mögliche anzulasten, weil dann jede andere Handlung ohne jede Begründung oder Nutzen allein durch ihren (angeblichen) Gegensatz zur Mitte schon widerständig und damit gut ist. Aber ist es nicht eher so, dass es der bürgerlichen Politik und ihrer Art mit Anschlägen wie dem von Utøya umzugehen, sogar ganz gelegen kommen könnte, die Namen in den Mittelpunkt zu stellen, eben weil diese an sich überhaupt keine politische Maxime legitimieren?
Jan Schneider, LV Thüringen
AG Gedenken
Im Rahmen des Projektes „Lernen und Gedenken an den Rechten Terror“ werden momentan durch eine AG des Bundesvorstands verschiedene Methoden, Texte und Formate erarbeitet, die der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex dienen sollen. Dazu gehört auch das Video, das Jan in seinen Artikel kritisch bespricht. Ihr findet es auf unserem YouTube-Kanal. In der folgenden Ausgabe wird Steffen auf Jans Kritik antworten.
Hintergrund
Bundespräsident Steinmeier hat rund sieben Monate nach dem Anschlag in Hanau, Angehörige der Opfer in Schloss Bellevue empfangen. Er sagte: „Wir erinnern uns an neun Menschen, neun junge Leben. Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie verstanden sich als Hanauer – ganz egal, woher sie oder ihre Familien einmal gekommen waren, woran sie glaubten, woran sie Freude hatten.“ Der Bundespräsident betonte: „Wer Menschen aufgrund irgendwelcher Merkmale in Gruppen zwingt und abwertet; wer sie auf ihre Herkunft, ihren Glauben, ihr Geschlecht oder ihre Lebensanschauung reduziert; wer ihnen ihre Einzigartigkeit nimmt, der stellt sich gegen das Lebensprinzip unserer Demokratie. Die Würde des Menschen, jedes einzelnen Menschen, ist unantastbar. Sie steht unter dem Schutz unseres Grundgesetzes.“