Auf der vergangenen Bundeskonferenz im Mai wurde nicht nur ein neuer Bundesvorstand gewählt. Auch wurde der Abschied von Jana Herrmann als Bundesvorsitzende gefeiert. Vier Jahre lang hat sie als Vorsitzende die Geschicke des Verbandes geprägt – dem gingen weitere sechs Jahre als Mitglied im Bundesvorstand voraus. Wir haben sie u.a. zu ihrer Zeit als Teil der ersten weiblichen Doppelspitze in der Geschichte des Verbandes, zu zukünftigen Herausforderungen für die Falken sowie zu ihrer persönlichen Zukunft befragt.
Liebe Jana, nach vier Jahren als Bundesvorsitzende hast du dich nun aus dem Bundesvorstand verabschiedet. Mit welchen Gefühlen lässt du nun den Vorsitz hinter dir?
Ich hätte eigentlich gedacht, dass man nach diesem Schritt in ein tiefes Loch fällt und auch Angst hat, dass nach einem alles zusammenbricht. Tatsächlich gehe ich aber mit einem sehr positiven Gefühl. Das liegt zum einen an der sehr wertschätzenden Verabschiedung auf der Bundeskonferenz, bei der gezeigt wurde, was ich während meiner Zeit im Verband alles gemacht habe. Zudem finde ich den neuen Bundesvorstand richtig gut. Die Genoss*innen, die nun gewählt wurden, betreiben ihre Arbeit mit einer Ernsthaftigkeit, die mich nachts gut schlafen lässt. Ihnen liegt der Verband genauso am Herzen wie mir. Deshalb kann ich mit einem guten Gefühl gehen.
Dennoch ist der Abschied von der Erkenntnis begleitet, dass ich nie wieder im Leben so einen geilen Job haben werde. Die Falken waren lange Zeit mein Ehrenamt und mein einziges Hobby. Als Bundesvorsitzende habe ich für das, was mir wahnsinnig viel Spaß gemacht hat, auch noch Geld bekommen. Aber natürlich war klar, dass ich diese Arbeit irgendwann an andere abgeben werde.
Wie würdest du die vergangenen vier Jahre für den Verband bilanzieren?
Wir hatten in der Zeit verschiedenste Themen, mit denen wir uns intensiv beschäftigt haben: Rechter Terror, die Auseinandersetzung mit der AfD, der Strukturaufbau der Zeltlagerplätze, die Covid-19-Pandemie, der Deutsche Frauenrat, die Vorbereitung des Utøya-Gedenkzeltlagers.
Besonders stolz bin ich darauf, dass wir unser Profil im Bereich Prävention sexueller Gewalt geschärft haben. Diesen Prozess haben zwar schon Menschen vor mir angestoßen, aber während der letzten Jahre haben wir es geschafft, das Thema im Gesamtverband zu platzieren. Man merkt, dass Präventionsarbeit den Gliederungen zum Anliegen geworden ist, sie entwickeln eigenständig Schutzkonzepte und beschäftigen sich mit dem Thema. Auf der Bundeskonferenz ist auch das Verbandsordnungsverfahren[1] angepasst worden – keinen Tag zu früh und keinen Tag zu spät.
Der Verband hat in den vergangenen Jahren auch ein stärkeres Selbstbewusstsein entwickelt. Wir Falken sehen uns nicht mehr nur in Abgrenzung zu dem, was wir nicht sind, sondern haben ein positiveres Verständnis davon entwickelt, wer wir sind – nämlich eine klassenbewusste, sozialistische Jugendorganisation, die sich in einem Netzwerk von politischen Organisationen zwischen aktivistischer Basisarbeit und politischer Einflussnahme bewegt und dabei durchaus in der Lage ist, diese Rolle zu reflektieren. Der neu gewählte Bundesvorstand ist auch von diesem Verständnis geprägt.
Wie lautet deine persönliche Bilanz zur Arbeit im Bundesvorstand?
Ich habe immer sehr gerne in einem bundesweiten Team aus Funktionär*innen gearbeitet, wir konnten so unsere Kräfte bündeln. Für mich war die Arbeit im Bundesvorstand während der letzten zwei Jahre allerdings deutlich angenehmer als die zwei Jahre zuvor. Die Atmosphäre war solidarischer, die Zusammenarbeit besser. Davor war der Bundesvorstand stark von Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen politischen Richtungen geprägt, was sehr kräftezehrend war. Aber natürlich gehört das zum Verbandsleben dazu, das muss man aushalten können. Die Falken sind keine Partei, in der es Flügelkämpfe gegeneinander gibt, sondern wir tragen unsere Debatten alle gemeinsam aus. Das finde ich sehr vernünftig.
Welche Ereignisse der vergangenen vier Jahre waren für dich besonders prägend?
Extrem geprägt hat mich der Besuch auf Utøya während der Vorbereitung und Durchführung der Willy Brandt Youth Conference Against Extremism zusammen mit unserem norwegischen Schwesternverband Framfylkingen. Diesen Ort mit eigenen Augen zu sehen hat viel mit mir gemacht. Was mich besonders beeindruckt hat, war, wie die AUF den Toten gedenkt und mit den Überlebenden und Angehörigen arbeitet, ohne das Geschehen zu individualisieren. Dabei hätte das, was der AUF passiert ist, prinzipiell auch uns passieren können. Ich habe gemerkt, dass es wichtig ist, uns dessen als linke Organisation bewusst zu sein, ohne uns deswegen ängstigen und lähmen zu lassen. Daraus habe ich die Motivation gewonnen, die Themen Gedenken und rechter Terror im Verband zu setzen. Dabei soll rechter Terror als in den Staat und seine Institutionen eingewebte Struktur verstanden werden, die in ihrer personellen Kontinuität bis in die Nazizeit zurückreicht.
Ein weiteres prägendes Ereignis waren die G20-Proteste in Hamburg gleich zu Beginn unserer Amtszeit. Es war ein schwerer Schock zu sehen wie die Stadt, geführt von einer sozialdemokratischen Regierung, gegen die protestierenden Menschen vorgegangen ist. Ein Bus der Falken NRW wurde auf dem Weg zu einer Jugenddemo nach Hamburg angehalten und die zum Teil minderjährigen Genoss*innen wurden in die Gefangenensammelstelle (GeSa) gebracht. Auch mein kleiner Bruder war mit dabei. Uns war nicht klar, was in der GeSa mit den Genoss*innen passiert. Damals hatten Alma und ich noch nicht so viele persönliche Kontakte und wir mussten uns gut überlegen, wen wir anrufen und um Hilfe bitten könnten. Dabei befinden wir uns als Falken in der schwierigen Lage, dass wir einerseits Kontakte benötigen, die uns Unterstützung bieten können, wir uns aber andererseits natürlich immer in Opposition zu den Machtapparaten bewegen. Das war eine sehr herausfordernde Situation.
Schließlich war da noch der Brand auf dem Winterdinx der Falken Braunschweig Ende 2019, bei dem unser Genosse Max gestorben ist.
All diese Ereignisse haben dazu geführt, dass wir verstärkt über das Thema Sicherheit nachgedacht haben. Wir haben als Verband die Verantwortung für die Menschen, die bei uns mitfahren, und müssen uns darum kümmern, dass sie in Sicherheit sind. Entsprechend haben die Bildungsstätten ihre Feuerschutzkonzepte weiterentwickelt, für die Camps haben wir umfangreiche Sicherheits- und Hygienekonzepte verfasst, auch wegen der Pandemie.
Wofür möchtest du dem Verband gerne als Bundesvorsitzende in Erinnerung bleiben? Worin siehst du dein Erbe?
Mein Erbe sehe ich in meiner feministischen Politik. Wir haben erreicht, dass Frauen politische Positionen im Verband übernehmen. Aber damit ist erst der Anfang gemacht. So wird man z.B. schnell zur Projektionsfläche für männliche Hegemonieansprüche, wenn man als Frau in eine Machtposition kommt. Es gibt viele Männer, die nicht damit klarkommen, wenn ihnen eine Frau widerspricht. Wäre ich ein Mann gewesen, hätte sich so mancher Genosse sicherlich mehr von mir sagen lassen. In einer solchen Position ist es wichtig, sich zu trauen, in den Konflikt zu gehen. Ich denke, dass alle Frauen das prinzipiell können, gleichwohl ist klar, dass die weibliche Sozialisation Frauen in eine eher ausgleichende Funktion drängt. Das macht Frauen auch in unserem Verband zu beliebten Verantwortungsträger*innen. Aber das ist nicht die Rolle, die wir wollen, für die wir kämpfen. Deshalb müssen wir dranbleiben.
In Erinnerung bleiben möchte ich gerne als Bundesvorsitzende, die immer ansprechbar geblieben ist. Tatsächlich war es manchmal auch eine Last, rund um die Uhr angeschrieben oder angerufen zu werden. Aber ich finde es wichtig, dass Bundesvorsitzende keine unansprechbaren Autoritäten sind, sondern Verantwortung zeigen für die Mitglieder.
Ich wünsche mir, dass jede und jeder im Verband den Verbandsaufbau als eigene Aufgabe betrachtet und sich überlegt, wie man junge Genoss*innen stärken kann. Es ist wichtig, dass neue Mitglieder so etwas wie Mentor*innen zur Seite haben, die sie unterstützen. Ich selbst habe einen solchen Mentor gehabt und sehr davon profitiert. Ohne eine solche unterstützende Person wäre ich wahrscheinlich nicht im Verband geblieben.
Wie würdest du deine Erfahrungen mit der ersten weiblichen Doppelspitze in der Geschichte des Verbandes zusammenfassen?
Ich bin froh, Teil einer Doppelspitze gewesen zu sein. Es war sehr produktiv, mich zu allen Anliegen mit jemandem absprechen zu können. Dies entspricht auch meiner Vorstellung von kollektiver Vorstandsarbeit viel besser als die Arbeit als einzelne Vorsitzende. Sicher war es für uns als zwei Frauen härter, als es für eine paritätisch besetzte Doppelspitze gewesen wäre, denn Männer sind in der Politik immer noch viel akzeptierter als Frauen. Wir mussten uns anstrengen, um uns Respekt zu verschaffen.
Insgesamt ist festzustellen, dass die Doppelspitze mehr Frauen in verantwortliche Funktionen bringt. Es muss aber hinterfragt werden, was Frauen dann mit dieser Position anfangen. Sind sie eher diejenigen, die alles zusammenhalten, die „Care-Giver“, oder sind sie in der Lage, eine inhaltliche Linie zu entwickeln?
Der Verband darf sich nicht darauf ausruhen, eine weibliche Doppelspitze zu haben, denn gerade dann muss sich aktiv mit der Rolle von Mädchen und Frauen im Verband beschäftigt werden. Auch muss der restliche Vorstand die Frauen dabei unterstützen, ihr politisches Amt gut ausfüllen zu können. Am Ende profitieren alle davon, wenn Frauen ihren Job gut machen können und nicht als politische Führung ständig hinterfragt werden.
Was ist deine Perspektive auf die die weitere Zukunft des Verbandes? Wo siehst du Herausforderungen und Baustellen?
Dem Verband kommt in der nächsten Zeit eine große Verantwortung dabei zu, sicherzustellen, dass die Krise nicht zulasten der Kinder- und Jugendarbeit geht. Schon während der Pandemie hat der Verband die wichtige Rolle übernommen, auf die Situation von Arbeiter*innenkindern und ‑jugendlichen aufmerksam zu machen. Diese wurden im vergangenen Jahr weitgehend nur als potenzielle Virusüberträger*innen und als zu beschulende Wissensbehälter*innen betrachtet. Im Grunde hat sich sonst niemand für sie interessiert.
Außerdem muss sich der Verband um die Zeltlagerplätze kümmern. Es gibt kaum noch Fördergelder für die Finanzierung ihrer Infrastruktur. Für die Finanzierung aus ihren Einnahmen sind sie aber nicht ausgelegt, denn sie arbeiten kostendeckend. Es muss ein dauerhafter Fördertopf geschaffen werden, aus dem die zahlreichen Sanierungen, die bei den Zeltlagerplätzen überfällig sind, bezahlt werden können. Dafür muss Lobbyarbeit geleistet werden. Leider habe ich den Eindruck, dass es im Verband noch nicht genug Verständnis dafür gibt, wie bedeutend die Zeltlagerplätze für uns sind. Im Grunde stellen sie eine Absicherung dafür da, auch unter schwierigen Bedingungen arbeiten zu können. Selbst wenn die Finanzierung der Kinder- und Jugendarbeit einbrechen sollte, wären die Falken durch die Plätze immer noch in der Lage, auf Zeltlager zu fahren. Deshalb ist es wichtig, dass Genoss*innen nach ihrer aktiven Zeit im Verband in die Vereinsarbeit gehen, um die Zeltlagerplätze zu unterstützen.
Sorgen mache ich mir auch um die Angriffe von rechts. Bislang haben wir die Angriffe der AfD ganz gut abgewehrt. Die Frage ist, ob der Partei noch etwas anderes einfallen wird als kleine Anfragen in den Parlamenten. Damit müssen wir rechnen.
Zuletzt wäre es wünschenswert, wenn sich die Gliederungen des Verbandes, die in die Diskussion um die Ausrichtung der Mädchen- und Frauenpolitik involviert waren, sich mehr in unsere Gremienarbeit im Rahmen der MFPK und des Queerforums einbringen würden. Einmal, weil man schlichtweg mit mehr Leuten mehr erreichen kann, aber auch, weil der Verband an diesen Kontroversen nicht zerbrechen darf. Dazu müssen wir die Konflikte führen, aber nicht nur in der Hitze der Debatte auf den Bundesausschüssen und Bundeskonferenzen, sondern im Rahmen einer langfristigen gemeinsamen Auseinandersetzung. Auf der Bundeskonferenz 2017 ist der Konflikt am Thema Intersektionalität eskaliert. Zwar wird im Moment nicht mehr über das Thema gestritten, aber vor allem deshalb, weil sich die verschiedenen Fraktionen nicht mehr miteinander beschäftigen. Es muss ein Interesse daran geben, die unterschiedlichen Positionen zu verstehen, und man muss sich Zeit nehmen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das geht nur über langfristige Diskussionsprozesse im Rahmen unserer Gremien. Auch das Queerforum wird dringend gebraucht. Es gibt viele queere Menschen im Verband, die einen Ort benötigen für eine gemeinsame queere Bildung.
Wie wird es für dich nach dem Bundesvorsitz weitergehen? Wo siehst du deine persönliche, politische und berufliche Zukunft?
Zunächst werde ich meine Masterarbeit zu Prävention sexualisierter Gewalt in politischen Kontexten schreiben, die seit vier Jahren auf mich wartet. Außerdem bin ich kürzlich nach Dortmund gezogen. Ich möchte der sozialistischen Bewegung gerne weiterhin nah bleiben, aber wie das genau aussehen wird, muss sich erst noch zeigen.
Wirst du dem Verband noch in anderer Funktion erhalten bleiben?
Auf jeden Fall. Ich bin immer noch im Vorstand der Bildungsstätten, des Willy Brandt Centers und des Zeltlagerplatz e.V. Diese Ämter werde ich nun nach und nach abgeben.
Da der Verband mir die Ausbildung zur Fachkraft für Prävention sexueller Gewalt ermöglicht hat, möchte ich zu diesem Thema gerne auch weiterhin für den Verband ansprechbar bleiben.
Zudem gibt es eine starke Vereinslandschaft in NRW, in der ich Lust habe, Teil der nächsten Generation zu werden. Ich kann mir sowohl vorstellen, in Reinwarzhofen die Wasserhähne anzuschrauben als auch die Fördervereinsstruktur zu bespielen.
Vielen Dank für das Interview und alles Gute für deine Zukunft!
Interview: Maria Neuhauss (LV Thüringen)