Genoss*innen! – Eine besondere Beziehungsweise

„We’ve learned the world’s divided
and we have made a choice“

No going back – Lied der Bergarbeiterfrauen

Bei den Falken bezeichnen wir einander in der Regel als Genoss*innen und meinen damit eine besondere Weise, sich aufeinander zu beziehen. Genoss*innen, das sind diejenigen, die im politischen Kampf auf derselben Seite stehen. Die Kommunistin und Politikwissenschaftlerin Jodi Dean schreibt in ihrem Buch “Genossen!”: „(…) ich begreife den Genossen als Chiffre für das politische Verhältnis von Menschen auf derselben Seite einer politischen Barrikade. (…) Wenn wir siegen wollen, und wir müssen siegen, müssen wir zusammen handeln.

We’ve learned the world’s divided

Diese Definition der Genoss*innenschaft hat eine ganz und gar nicht selbstverständliche Voraussetzung: Das Verständnis von Gesellschaft als Resultat von Konflikten zwischen konkreten Akteur*innen. Akteur*innen, also auch wir als Verband, verfolgen Interessen, entwickeln Strategien, um sie durchzusetzen, schließen Bündnisse, versuchen Diskurse zu lenken und Menschen für ihr Projekt zu gewinnen, kurz: Man tut, was nötig ist, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Im Grunde ist diese Aussage banal. Sie sagt nichts anderes, als dass es Politik gibt. Aber gerade das ist nach Jahrzehnten der neoliberalen Zurichtung absolut keine Selbstverständlichkeit mehr. Neoliberalismus heißt Politikverdrängung. Jodi Dean beschreibt die Entpolitisierung des gesellschaftlichen Lebens als ein Auseinanderfallen in zwei Pole: auf sich selbst zurückgeworfene Individuen auf der einen und unpersönliche, entfernte Systeme, die unveränderbar erscheinen, auf der anderen Seite. In ihren eigenen Worten: „Wir haben verantwortliche Individuen, die verantwortlich gemacht und als Zentren autonomer Entscheidung dargestellt werden; und wir haben Individuen, die mit ausweglosen Situationen konfrontiert sind, auf die sie keinerlei Einfluss haben.“

Auch die gegenwärtige Linke ist durch den Verlust von Politik geprägt. Dean kritisiert, dass die Linke Politik inzwischen mehrheitlich „als bloß diffuses Bewusstsein in Verbindung mit persönlicher Integrität“ versteht. ‘Politisch sein’ heißt nicht mehr primär, organisiert und im politischen Kampf aktiv zu sein, sondern beschreibt das grobe Gefühl, zu den Guten zu gehören. Dieses Politikverständnis schlägt sich nieder in einer Praxis, deren Horizont das möglichst gute individuelle Verhalten möglichst vieler Menschen ist, in erschreckend feindseligen Reaktionen auf individuelles Fehlverhalten und in den ständigen Spaltungen und Zerwürfnissen innerhalb der Linken (sehr lesenswert dazu ist Mark Fisher’s Artikel „Exiting the Vampire Castle“). In der Konsequenz grassieren Hoffnungslosigkeit und Resignation bis hin zum Zynismus. Im Misstrauen gegen Organisierung und, damit zusammenhängend, in der Ablehnung allein der Vorstellung, man könne so etwas wie Macht gewinnen, nimmt die Politikverdrängung bisweilen gar eine affirmative Wende. Jene Teile der Linken verzichten ganz bewusst darauf, sich als politische Akteur*innen zu begreifen und  einzumischen. 

Mit der Perspektive auf Gesellschaft als Konflikt, den es auszutragen und letztendlich zu gewinnen gilt, wird es notwendig, eine Machtbasis aufzubauen – zumindest, wenn wir nicht tatenlos zusehen wollen, wie im Interesse eines Bruchteils der Menschheit der überwiegenden Mehrheit (uns!) das Leben schwer bis unmöglich gemacht wird. Bertolt Brecht hat es vor beinahe 100 Jahren so formuliert: „Es wird kämpfen für die Sache des Feinds / Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.” Um eine Machtbasis aufzubauen, müssen wir viele sein und wir müssen Genoss*innen sein.

Die Genoss*in als Träger*in utopischer Sehnsucht 

Dass wir uns zueinander als Genoss*innen verhalten, ist nicht nur die Bedingung dafür, dass wir gewinnen können. Die Beziehungslogik von Genoss*innenschaft steht quer zum feindseligen Individualismus und der allseitigen Konkurrenz im Kapitalismus und ermöglicht uns im Hier und Jetzt ein Stück ‚Gegenwelterfahrung‘. So verstanden beschreibt dieser Begriff nicht den Rückzug aus der Gesellschaft, im Gegenteil! Wirklich neue Beziehungsformen lernen wir nur in der praktischen kollektiven Auseinandersetzung mit der Welt.

Die Einsicht, dass wir gewinnen müssen und es nur gemeinsam können, bedeutet, dass jede*r Einzelne von uns ein unmittelbares Interesse daran hat, dass all ihre Genoss*innen so stark und so fähig wie möglich sind. Das ist in einer kapitalistischen Gesellschaft eine äußerst ungewöhnliche Erfahrung. Normalerweise stellen die Stärke und die Fähigkeiten der Anderen eine Bedrohung dar. Sie bedeuten, dass meine beste Freundin Klassenbeste werden wird, dass ein Anderer die Hauptrolle bekommt oder dass meine Konkurrentin eingestellt wird – statt mir. Die Gefühle von Neid, Versagensangst, Wut auf diejenigen, die Erfolg haben, die durch permanente Konkurrenz ausgelösten Minderwertigkeitsgefühle und deren verheerende Auswirkungen auf Beziehungen kennen wir wahrscheinlich alle. Sie sind die unvermeidbare Folge des Verhältnisses, in das der Kapitalismus Menschen zueinander setzt. Die Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel – den Sozialismus – eröffnet den Raum für neue Gefühle. Die gelungene Rede einer Genoss*in, der überzeugende Artikel oder der gute Auftritt auf einem Podium werden genauso gut zu meinem Erfolg, wie zu dem ihren. Darüber hinaus darf ich davon ausgehen und auch einfordern, dass meine Genoss*innen mich von einem Vorsprung in irgendeiner Fähigkeit profitieren lassen, statt ihn gegen mich auszuspielen. Andersherum habe ich die Verantwortung das, was ich kann, meinen Genoss*innen zur Verfügung zu stellen.

We have made a choice

Als Genoss*in trage ich Verantwortung und kann zur Verantwortung gezogen werden – auch das ist eine für Menschen im Kapitalismus ungewöhnliche Erfahrung. Verantwortung erleben die meisten Menschen im kapitalistischen Alltag vor allem als Zumutung: Man wird ‘verantwortlich gemacht’, und zwar im Sinne eines ‘Selber schuld!’ für die eigene Klassenposition. Wo doch einmal verlangt wird, Verantwortung zu übernehmen, geschieht das unter den Vorzeichen von Ungleichheit und Zwang. Vor allem an Frauen wird ständig herangetragen, die Verantwortung für eine angenehme Atmosphäre in Gruppen oder das physische und psychische Wohlergehen insbesondere von Männern oder Kindern zu übernehmen.

Dass Menschen es in dieser Gesellschaft daher von sich aus wenig verlockend finden, Verantwortung füreinander und für das Gelingen einer gemeinsamen Sache zu tragen, ist wenig verwunderlich. Es ist sehr schwer, atomisierte Individuen, die gelernt haben, sich durchzumogeln, dazu zu bewegen, sich mit allem, was sie haben, einem Projekt zu verschreiben, das nur zusammen gelingen kann. Die Entscheidung ist beängstigend. Sie bedeutet, sich in wechselseitige Abhängigkeit zu begeben und das mit Leuten, die man in der Mehrheit gar nicht kennt. Wenn wir uns darauf einlassen, Genoss*innen zu sein, gehen wir damit das Risiko ein, hängen gelassen zu werden. Andersherum erlangen unsere Lebensentscheidungen Auswirkungen auf unsere Genoss*innen. Wenn wir uns aus der Affäre ziehen wollen oder auch nur einen Fehler gemacht haben, können wir dafür zur Verantwortung gezogen werden. Aber gerade weil alles in der Gesellschaft uns in die andere Richtung drängt, ist die Entscheidung, uns einzulassen, so wertvoll. Wir können durch die Beziehung der Genoss*innenschaft nämlich auch all das gewinnen, woran es uns in unserem Alltag mangelt: Nicht nur eine verlässliche Gemeinschaft, sondern auch echte Individualität, weil wir mit unseren diversen Erfahrungen, Fähigkeiten und Entscheidungen vorkommen dürfen (und müssen!) ohne damit im selben Moment unser Umfeld zu bedrohen. Und nicht nur das: Erst durch die Beziehungen in der Gruppe erfahren wir uns selbst in lebendiger Differenz zu den Anderen als Individuum. Anders, als es uns neoliberale Ideologie glauben machen will, brauchen wir die Anderen, um wir selbst sein zu können.

Wie wir die Entscheidung treffen (und wir werden sie immer wieder neu treffen müssen), ist letztlich uns selbst überlassen. Es gibt Gründe, sich dagegen zu entscheiden, den Kampf mit der Welt, so wie sie ist, aufzunehmen. Die Gründe dafür sind unendlich viel besser.

Miriam Bähr

KV Bremen