Das alltägliche Leben der Schülerinnen zeichnet sich dadurch aus, dass es kein Leben ist. Es wäre dieser Bezeichnung würdig, wäre es nicht determiniert und strukturiert durch eine durch und durch dysfunktionale Institution: die Schule bildet den konstitutiven Rahmen des Alltags der Schülerinnen. Sie bestimmt wo und womit die Schülerin den Großteil ihrer Zeit verbringt, welchen Themen sie ihre Aufmerksamkeit widmet, was sie denkt, wann sie aufsteht und wann sich schlafen legt. Sie diszipliniert und kontrolliert sie. Und: die Schule macht psychisch krank.
Bevor das Sonnenlicht das Zimmer durchdringt, quält sich die Schülerin aus dem Bett und macht sich bereit für die Schule. Die strenge Zeitplanung gibt den Tagesablauf vor: nach jeder Stunde schleppt sie sich von einem Klassenraum zum nächsten, ständig mit der Angst konfrontiert geprüft zu werden. Man verweilt auf seinen Sitzplätzen mit erzwungener Aufmerksamkeit – kurz durch Pausen unterbrochen – bis in den Mittag oder späten Nachmittag hinein. Doch der Schultag endet nicht mit dem Unterricht, sondern dehnt sich durch Lernen, Hausaufgaben und Vorbereitungen über den ganzen Tag aus. Die Freizeit dient ausschließlich der Regeneration, denn die Schule saugt einem die Energie ab. Sie erschöpft. Sie raubt einem die Zeit und Kapazitäten für erfüllende Aktivitäten jenseits des unmittelbaren Lustprinzips, der konstanten Stimulation; jenseits der libidinösen Befriedigung durch Pornokonsum, des Cannabisrausches oder des eskapistischen Scrollen über die TikTok-For-you-Page. Sie reduziert die menschliche Tätigkeit auf seine hedonistische Reproduktion und unterminiert eine jegliche Form einer freien Entfaltung, der Selbsttätigkeit.
Die Tätigkeit an der Schule – das Lernen, Zuhören, Mit- und Klausuren-Schreiben ist eine entäußerte, entfremdete Tätigkeit; sie ist keine Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern eine Form der Kasteiung, gekennzeichnet durch zwei antinomische Extreme, die den Geist ruinieren und jede freie physische und psychische Kraft unterbinden: die lethargische Monotonie einerseits und der exzessive Stress andererseits. Der Alltag der Schülerin wechselt sich ab zwischen einer apathischen Passivität während der repetitiven Unterrichtsstunden und eines zermürbenden Drucks, den das Prüfungswesen auf sie ausübt, zwischen nicht endend wollender Phasen gleichförmiger Ennui und unerträglichen Situationen psychischer Belastung durch Leistungsanforderungen.
In der Schule wird die Schülerin durch Disziplinierung, Hierarchisierung und Kontrolle geformt und ihr Verhalten dressiert, um perfekt in den „flexiblen“ Arbeitsmarkt des Spätkapitalismus eingegliedert werden zu können. Die Schule lässt sie jegliche Hoffnung auf, jeden Anspruch an ein schönes Leben vergessen und lehrt sie, sich der „harten Realität“ zu stellen, sich dem tristen Fatalismus zu unterwerfen. Sie tötet die Fantasie.
Doch die erwähnten Probleme dürfen nicht als Individualphänomene (oder als Kritik an den teilweise sehr wohl engagierten Lehrkräften) verstanden werden, die durch Schulreformen oder ähnliches zu lösen seien, nein, ihre Ursachen sind in den Tiefenstrukturen unserer gesellschaftlichen Totalität, das heißt in der ökonomischen Basis zu suchen. Denn die der Schule tritt in der verkehrten Welt als ein Moment des Richtigen auf: sie erfüllt die gesellschaftliche Funktion der Reproduktion der Produktionsverhältnisse. Deswegen streben wir weder eine Schulreform noch die Überwindung der Schul,e sondern die Überwindung der Gesellschaft an sich, genauer: der Gesellschaft, in der die dominierende Kraft das Kapital ist, an. Weil jedoch die herrschende Ideologie den Horizont der Imagination in einer solchen Weise einengt, dass eine emanzipierte Gesellschaft nicht einmal mehr vorzustellen ist, beschränkt sich die konventionelle Schulkritik auf Forderungen nach einer Intensivierung nicht der Auflösung repressiver und disziplinärer Elemente oder einer völligen Unterwerfung der Bildungsanstalten unter das Kapitalinteresse. Wie ein stoischer Sklave glaubt die Schülerin sich umso freier, je mehr Ketten der Autorität sie fesseln.
Möchte sich die Schülerin emanzipieren, muss mit diesem Konformismus brechen und sich ihrer Position bewusst werden. Sie muss eine Sehnsucht entwickeln nach einer Welt, die nicht der Verwaltung, Disziplin und Kontrolle unterworfen ist, in der ihre Tätigkeiten nicht entfremdeter Natur sind, sondern deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist: das Reich der Freiheit.
2. Situationistische Internationale