Kommentar zu “Über das Elend im Schülermilieu”

Selten hat eine politische Aktion eine solche Solidarität in mir hervorgerufen wie ein Vorfall in Würzburg vor kurzem. Im März erregte ein schulkritisches Flugblatt, das ein 11.-Klässler an seine Mitschüler*innen verteilte, einiges an Aufmerksamkeit. Die Schulleitung empörte sich über die „verstörenden Inhalte“ und suspendierte den Schüler, Finn, für drei Tage, weil der „Schulfrieden gestört“ worden sei. Er hatte in seinem zweiseitigen Text „Über das Elend im Schülermilieu“ festgestellt, dass Alltag in der Schule für Schüler*innen vor allem durch Langeweile und Stress gekennzeichnet ist. Man hört gezwungenermaßen passiv zu, sollte aber auch jederzeit damit rechnen, aktiv eine Leistungskontrolle meistern zu müssen. Diese Mischung aus dröger Einfalt und furchtbarer Angst sollte überwunden werden, fordert er im Flugblatt.

Popkultureller Prototyp des aufmüpfigen Schülers:
Bart Simpson als Opfer repressiver Erziehung

Finn hat mit seinen Beschreibungen der elenden Schultage schöne und vernichtende Worte für die Erfahrung gefunden, die ich selbst noch bis zu meinem Abschluss vor einem Jahr gemacht habe. Ich habe es als sehr frustrierend empfunden, dass meine Mitschüler*innen diese Unterrichtserfahrung viel stärker verklärten, statt sie rücksichtslos zu kritisieren. Sie sagten mir, wir müssten die Lehrer*innen mehr unterstützen, dann würde der Unterricht besser werden. Also sollte ich auch noch selbst daran schuld sein, dass ich die Schule nicht aushalten konnte. Andere versuchten auch, sich möglichst unauffällig durch den Unterricht zu mogeln. In jedem Fall waren wir hoffnungslos vereinzelt. Wenn es hart auf hart kam, wenn eine Schüler*in von Lehrer*innenn schlecht behandelt wurde, bei schlechtem Unterricht, der mit reaktionären Tiraden statt mit Lerninhalten gefüllt wurde, beim Anfechten der Notenvergabe und sogar bei unzweifelhaft übergriffigem Lehrer*innenverhalten wussten wir Schüler*innen alle, dass jeder sich selbst am nächsten ist und man in diesen Angelegenheiten nicht auf Mitschüler*innen zählen kann – selbst dann nicht, wenn sie enge Freunde sind.

Finn beschreibt, dass die Schule eine Institution der Konkurrenz ist. Dagegen hilft nur Solidarität, also sich praktisch gegen die Schule zusammenzuschließen. Die Schule bildet für den Kapitalismus aus, wir Falken setzen dem sozialistische Jugendorganisierung entgegen. Das bedeutet einerseits, sich in der Schule gegenseitig zu unterstützen und z.B. nicht zuzulassen, dass Lehrer*innen willkürlich Einzelne drangsalieren können, indem man zusammen widerspricht. Andererseits muss man die Gesellschaft angreifen, die die Schule erst nötig macht. Erst wenn nicht mehr nach den Imperativen des Kapitals produziert wird, wird eine neue Form der Bildung möglich werden.

Die Auseinandersetzung mit Schulkritik, die z.B. den eigentümlichen und keineswegs unmittelbar gegebenen Zusammenhang zwischen solidarischer Schüler*innennotwehr und revolutionärer gesellschaftlicher Praxis als wichtiges Thema enthalten könnte, steht bei uns Falken Hamburg noch am Anfang. Wir wollen uns gerne in Hamburg mit Schüler*innen austauschen, um auch hier eine Aktion ähnlich der aus Würzburg durchzuführen und zur gemeinsamen Organisation gegen die Schule anzuregen. Außerdem rufen wir mit diesem Text andere Falkengliederungen dazu auf, dass ihr euch bei uns meldet, wenn ihr euch mit uns zu diesem Thema austauschen wollt.

Die Schüler*innen haben eine Welt zu gewinnen! Erst einmal könnte man gemeinsam weniger Stress und Arbeit für jeden erkämpfen, indem man sich in der Schule nicht von Lehrer*innen gegeneinander ausspielen lässt und unnötig andere runtermacht. Und dann streitet man für eine Gesellschaft, in der wir die Grundzüge unserer heutigen Schule in den neuen Formen der Bildung nicht mehr wiedererkennen würden. Dass die Schüler*innen aber durch Organisierung auch mehr zu verlieren haben als nur ihre Ketten, dass es schwierig ist, sich in der Schule während Pubertät, Identitätskrisen und Familienstress erfolgreich politisch zu organisieren (obwohl das Versprechen der Organisierung ist, individuelles Leiden zu mindern, indem man zusammen arbeitet) – all das müsste ehrlich reflektiert werden, um das bisherige Scheitern der Schulproteste zu verstehen. Wenn man es verdrängt, bleibt die Kritik an der Schule kraftmeierisch und hilflos und verschenkt in falschem Tatendrang die Gelegenheit, ein besseres Leben zu erkämpfen.

Eduard Kirchner
LV Hamburg


Lest Finns Flugblatt auf der Homepage der Hamburger Falken und hört euch sein Interview beim Freien Sender Kombinat, Hamburg (FSK) an.