Lernen fürs (Politiker*innen-)Leben – Jugendparlamente als Orte der Bildung?

Jugendparlamente haben derzeit politisch Hochkonjunktur. Für ihre Lobbyist*innen sind sie nicht nur eine „‘von oben zugestandene, institutionell gesicherte und eingehegte“ Möglichkeit, Beteiligung zu organisieren, sondern auch ein Ort der Bildung, denn sie böten „viele positive Lerngelegenheiten für die nachwachsende Generation und machen sie fit für eine vielfältiger gewordene Demokratie“.

Mitreißende Einblicke in ein sozialdemokratisches Jugendparlament in Österreich

So steht es zumindest in einer Broschüre des Deutschen Kinderhilfswerks mit dem Titel “Starke Kinder- und Jugendparlamente. Kommunale Erfahrungen und Qualitätsmerkmale”. Doch was lässt sich in Jugendparlamenten lernen und bieten sie tatsächlich Raum für Bildungsprozesse? Eine sozialistische Kritik.

Alltägliche Arbeit im Jugendparlament – Die Antizipation des Sachzwangs

Ein Jugendparlament ist, wie der Name bereits vermuten lässt, ein Parlament für junge Menschen. Es ist ein in irgendeiner Weise in der kommunalen Selbstverwaltung institutionell verankertes Gremium, dass das dortige Erwachsenenparlament beraten, Empfehlungen aussprechen und gegebenenfalls auch selbst Anträge an den Stadtrat einbringen darf. Jugendparlamente werden durch alle in einer Kommune wohnhaften jungen Menschen in einer bestimmten Altersspanne gewählt und jede*r aus der Kommune kann sich auch selbst als Kandidat*in aufstellen lassen. Die konkrete Arbeit der jungen Parlamentarier*innen ähnelt dann in den meisten Fällen der der Erwachsenen: Sie halten Sitzungen ab, schreiben und besprechen Anträge, warten auf Verwaltungsstandpunkte, geben Empfehlungen ab und nehmen an repräsentativen Terminen teil. Wer auf diese Weise Politik machen will, braucht Einiges an Sitzfleisch, Zeit und vor allem eine Affinität zur langatmigen Arbeit mit Anträgen und Vorlagen. In der Broschüre heißt es dazu, ganz euphemistisch in der Sprache der Apologet*innen dieser Form der Jugendbeteiligung: „Hier können Parlamentarismus gelernt und das Verständnis für parlamentarische Prozesse und Kompromisse gestärkt werden.“ Einlassen müssen sich die jungen Parlamentarier*innen jedoch auf viele Schleifen, bis überhaupt etwas beschlossen wird, sowie Ergebnisse, die unter Umständen erst nach Jahren tragen. Eine Menge an relevanten Themen und Fragestellungen stehen im Jugendparlament zudem erst gar nicht zur Verhandlung.

Ein Beispiel jugendparlamentarischer Arbeit

Neben einem Instrument zur Beteiligung junger Menschen werden Jugendparlamente als Ort bzw. Methode der politischen Bildung betrachtet. Doch werden sie diesem Anspruch in der Praxis kaum gerecht. Ein Beispiel der Auseinandersetzung mit Leipziger Lokalgeschichte soll das zeigen: Die ehemalige Baumwollspinnerei in Plagwitz ist heute ein beliebter Ort für Kunst und Kultur in der Stadt. Ihre Geschichte, die sich von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die Zeit der DDR bis ins Heute erstreckt, spielt dabei bisher jedoch eine untergeordnete Rolle. Das wollten die Leipziger Jugendparlamentarier*innen ändern. Wer jetzt erwartet, dass die jungen Menschen zu diesem Zweck eine Geschichtswerkstatt gegründet haben, sich durch Archivmaterialien gegraben oder Fragen historischer Vermittlungsarbeit diskutiert haben, liegt allerdings falsch. In einem Antrag „Erbe der Spinnerei aufdecken“ wendeten sie sich an die Stadtverwaltung. Sie wünschten sich von diese eine Auseinandersetzung mit der Ortsgeschichte, bei der u.a. Aspekte wie das koloniale Erbe, Zwangsarbeit, unwürdige Arbeitsbedingungen während der Zeit der sowjetischen Besatzung und die Situation von Vertragsarbeiter*innen in der DDR eine Rolle spielen sollen. Mit nur einer Rückfrage durch die begleitende Sozialarbeiterin wurde der Antrag einstimmig im Jugendparlament beschlossen und ging damit ins offizielle Verwaltungsverfahren der Stadt. Die Verwaltung schreibt nun einen Verwaltungsstandpunkt dazu, am Ende beschließt der Stadtrat den Antrag und beauftragt so, ganz wie von den Jugendlichen gewünscht, die Verwaltung damit, eine gründliche Geschichtsaufarbeitung zu erwirken.

Das Beispiel aus Leipzig zeigt in verschiedener Hinsicht die Schwachstellen von Jugendparlamenten als vermeintlichen Orten von politischer Bildung auf:

Allein das Vorgehen der Parlamentarier*innen offenbart ihre Verhaftung in der Logik kommunaler Verwaltung, die mit Irritation, kritischer Auseinandersetzung oder intensiver Durchdringung von Themenkomplexen – Voraussetzungen für Bildungsprozesse – nicht viel zu tun hat. Welche Fragen die Jugendlichen beispielsweise persönlich an das Erbe der Spinnerei „in vier verschiedenen Nationalstaaten“ haben, was das Ziel der historischen Aufarbeitung und die Konsequenzen für heutiges Tun und Handeln sein könnten, erfährt man durch den Antrag nicht. Lediglich der Anlass der Antragsstellung lässt sich erahnen: Für die Jugendparlamentarier*innen scheint es heutzutage zum guten Ton zu gehören, dass eine moderne Kommune eine gründliche Geschichtsaufarbeitung vorweisen kann. Deshalb soll die Stadtverwaltung tätig werden, denn „Kunst und Kultur ohne Reflektion der Geschichte des Ortes, wo sie stattfindet, schadet der Bedeutung der Kunst und Kultur“, wie es im Antragstext heißt.

Eine eigene inhaltliche Beschäftigung mit den genannten Themen geht damit nicht einher. Bei der Dichte an Themen, mit denen sich die jungen Menschen in ihrer Arbeit als Parlamentarier*innen auseinandersetzen müssen, ist das im Grunde auch unmöglich: Neben dem Antrag zum Erbe der Baumwollspinnerei wurden in derselben Sitzung innerhalb einer Stunde noch sieben weitere Tagesordnungspunkte – davon vier inhaltliche Anträge – behandelt. Schon diese Vielfalt der Themen, aber auch die Struktur der Sitzungen verstellen den Beteiligten jede Gelegenheit für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit einzelnen Gegenständen. Wirkliche Bildungsprozesse in Bezug auf politisch-gesellschaftliche Themen, werden dadurch ebenfalls kaum angestoßen. Die meisten gesellschaftspolitischen Fragen ließen sich auch gar nicht durch ein einfaches und erprobtes Prozedere, im Sinne von: Antrag schreiben, Verwaltungsstandpunkt abwarten, Antrag beschließen und Verwaltung beauftragen, lösen. Statt dass eine inhaltliche Auseinandersetzung auf Seiten der Jugendlichen stattfindet, werden der Öffentlichkeit im kommenden Jahr die Ergebnisse der durch die Verwaltung erwirkten Geschichtsaufarbeitung präsentiert. Wie langweilig und oberflächlich dieses Ergebnis aussehen wird, kann man sich heute bereits vorstellen.

Der Bildungsgehalt jugendparlamentarischer Arbeit

In jugendparlamentarischen Gremiensitzungen lernt man viel mehr als über die Gesellschaft – in diesem Fall ihre Geschichte – etwas über die Logiken von Gremien. Mit Bildung in einem kritisch-sozialistischen Sinne hat das Ganze aber wenig zu tun:

Bildungsprozesse setzen einen Anlass zur Auseinandersetzung mit der Welt, gewissermaßen eine Erfahrung oder eine Irritation, voraus. Ist dieser Anlass gegeben, erfordert es Zeit und Muße, sich mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen, ihn zu durchdringen und sich ein Urteil darüber zu bilden. Dafür kann es hilfreich sein, sich mit anderen zusammenzutun, denn gemeinsam gelingt es besser, komplexe Themen und Probleme zu durchdringen. Wenn sich der eigene Erfahrungsraum hauptsächlich auf Sitzungsräume, Vorlagen und repräsentative Termine beschränkt, die wenig mit dem eigenen Erleben der Welt zu tun haben, bietet das schwerlich Anlass für einen Bildungsprozess. Auch eine Fixierung auf das Absolvieren einer parlamentarischen Tagesordnung mit einer Fülle von Themen steht einer intensiven Auseinandersetzung eher entgegen. Das Sprechen über politische Bildung wird spätestens dort zur Augenwischerei, wo es keinerlei Einbindung des gewonnenen Wissens in konkrete soziale Kämpfe oder Auseinandersetzungen über Teilhabe an der Welt gibt. Politische Bildung wird korrumpiert und ist schließlich nichts weiter als ein Mittel zur Reproduktion der Zustände und die Antizipation der bestehenden Wirklichkeit.

In Jugendparlamenten gibt es für uns nichts zu lernen, als das Handeln innerhalb von Sachzwängen und das partizipative Ausgestalten eines von anderen definierten Rahmens. Durch Jugend- und Bürgerbeteiligung soll das wenige Gestaltbare wieder eine stärkere gesellschaftliche Legitimation gewinnen. Die Beteiligten werden so eingehegt in die bestehende Herrschaftsform. Die vermeintliche politische Bildung, die dieser Beteiligungsform erwächst, entspricht ihr dabei ungemein: Sie ist eine Lehre der politischen Institutionen und keine kritische Überprüfung der Verhältnisse. 

Frederik Schwieger
LV Thüringen