Rezension „Beziehungsweise Revolution“

Der Titel ist schon einmal vielversprechend: Beziehungsweise Revolution – 1917, 1968 und folgende. Wer kennt nicht die romantische Träumerei: Man ist Revolutionär*in, der*die Partner*in auch und im Tumult der revolutionären Unruhen weiß man um die gegenseitige Verbundenheit, wirft sich inmitten der Menge kurze intime Blicke zu und für einen Moment hört man das Getöse um sich herum nicht mehr – und nur einen Augenblick später schwillt es wieder an und man wird wieder Teil der revolutionären Menge.

Kurz gesagt: wer etwas in diese Richtung erwartet, wird enttäuscht werden. Das Buch ist viel trockener und eher Uni als Unruhe:

„Beziehungsweise. Es geht darum, sich auf die Beziehung selbst zu beziehen, sie nicht als Effekt, als Funktion des Bezogenen misszuverstehen. Zwar gibt es keine Relation ohne Relata, aber es gibt auch keine Relata, die außerhalb von Relationen existieren können (vgl. Schäffer 2014).“ Vielleicht ist das Buch daher bei Lesekreisen so beliebt. 

In drei großen Kapiteln geht es zunächst um die Russische Revolution von 1917 und dann um die gesellschaftlichen Umwälzungen von 1968, um schließlich zu fragen: Was war gut an ersterem und was an letzterem und wie bekommen wir beides gleichzeitig hin?

Insgesamt ist das Buch geprägt von Dilemmata und unlösbaren Problemstellungen, wie man sie vielleicht aus dem Ethik-Unterricht kennt: Man hat zwei Optionen, von denen beide Vor- und Nachteile haben, die sich aber gegenseitig ausschließen. Das nimmt man dann aber eher nicht zum Anlass, sich zu fragen, was der Grund dafür ist, dass sich beides ausschließt, sondern das Problem hin- und herzuwälzen und am Ende einen Formelkompromiss zu finden, in dem der Widerspruch versteckt wird. Beispielsweise ist eine große und wiederkehrende Frage des Buches: Wenn die befreite Gesellschaft als idealer Endzustand konzipiert ist, die Menschen aber unvollkommen sind, wie passt dann beides zusammen? Müssen sich die Menschen dann der idealen Gesellschaft anpassen? Kämpfen die Revolutionär*innen also für eine Gesellschaft, in der sie sich am Ende gar nicht wohlfühlen würden? Oder hat sich die Utopie umgekehrt den real-existierenden Menschen anzupassen und nach ihren Bedürfnissen konzipiert zu sein, obwohl diese unvollkommen sind und die Utopie damit ebenfalls nicht mehr perfekt wäre? Was wäre sie dann mehr als eine größere Reform?

Tja, da kommt man eigentlich einfach nicht weiter, das Sakrale und das Profane schließen sich nun einmal aus. Da müsste man sich doch eigentlich die Frage stellen, ob man nicht vielleicht einen falschen Begriff von Revolution hat (vielleicht ist sie nicht der perfekte Endzustand, sondern nur der Name dafür, die Gesellschaft zu einer zu machen, in der Menschen sich als Menschen aufeinander beziehen[1]). Oder man geht den Weg der Autorin und versucht einen Kompromiss zu finden: „Vielleicht muss die Utopie in einem bestimmten Sinn konservativ werden. Vielleicht muss das Begehren, alles anders werden zu lassen, an etwas festhalten, das nicht verändert werden soll.“ Das ist doch ein guter Kompromiss – was man ja bekanntlich daran erkennt, dass mit ihm alle unzufrieden sind.

Das soll aber nicht heißen, dass das Buch insgesamt schlecht wäre. Zum einen sind viele Überlegungen zum „Geschlecht der Revolution“ spannend. Der Autorin gelten die Geschlechter als von der Gesellschaft hervorgebracht und mehr noch: als schmerzhafte Grenzen, innerhalb derer die Menschen gefangen sind. Sie sind daher „vor allem hinsichtlich ihrer Überwindung interessant“. Sie vergleicht die geschlechtlichen Normen, die in den Revolutionen von 1917 und 1968 vorherrschend waren und stellt sie gegenüber. 1917 war geprägt von „universeller Maskulinisierung“, also von dem Gedanken, dass Männlichkeit fortschrittlich ist, die richtigen Werte Härte, Disziplin, Arbeitsmoral und Gleichheit sind und jeder Mensch in diesem Sinne männlich werden kann und soll. 1968 steht hingegen für Individualität, Konsumorientierung, Privatheit und Differenz. Bini Adamczak nennt das „differentielle Feminisierung“. Materialistisch im besten Sinne ist ihre Erkenntnis, dass dieser Wertewandel nicht einfach eine Verbesserung ist, sondern uns nur deswegen selbstverständlich vorkommt, weil sich mit der Zeit auch der Kapitalismus gewandelt hat und damit die Anforderungen, die er stellt. Waren Verzicht, harte Arbeit und Disziplin früher einmal notwendig, wären sie für den heutigen Kapitalismus katastrophal. Ohne Konsum, self care und die Ideologie, einzigartig zu sein, würden ganze Märkte zusammenbrechen. Zum Zweiten ist das Buch gespickt mit historischem Wissen und spannenden Anekdoten – wie der, dass nach der Oktoberrevolution die Taufe durch die „Oktobrierung“ ersetzt wurde und viele neue Namen entstanden wie Melor (Marx Engels Lenin Oktoberrevolution), Molot (Hammer), Serpina (Sichel), Parischkommuna, Barrikada oder Diktatura. 

Zudem finden sich auch viele (zumindest mir) wirklich neue Überlegungen zur Revolution. Beispielsweise sieht Bini Adamzcak die Revolution nicht als Akt einer einheitlichen Masse, die alle dasselbe wollen und denken. Vielmehr sagen zwar alle das gleiche, nämlich „Revolution“, meinen damit aber ganz verschiedene Dinge (nämlich das, was für sie die wichtigsten Dinge sind, die sich unbedingt ändern müssen) – und denken trotzdem, sie würden das gleiche meinen. Anhand dieses Gedankens lässt sich Lenin treffend kritisieren: er versuchte, der Revolution einen einheitlichen Willen aufzudrücken. Das ging nicht nur nicht ohne Gewalt, sondern damit tilgte er das Revolutionäre an der Revolution.

Fazit: Kann man schon lassen beziehungsweise lesen.

Jan Melor (LV Thüringen)