Ändere die Welt, sie braucht es!

Bertolt Brechts Lehrstücktheater

Bertolt Brecht

In den 1930er Jahren entwickelte der kommunistische Theatermacher Bertolt Brecht gemeinsam mit seinen künstlerischen Weggefährt*innen neue Formen des Theaters, die er Lehrstücktheater und episches Theater nannte. Dieses Theater verfolgte im Wesentlichen drei Ziele. Es sollte erstens dem Publikum eine produktive, die Welt ändernde Haltung nahelegen. Zweitens sollte es eine Übung im dialektischen Denken darstellen. Und schließlich sollte es das proletarische Publikum und seine Genoss*innen auf ein „direktes Sich engagieren im Kampf“, genauer im Klassenkampf, vorbereiten. Diese Ziele machen das Lehrstück- und das epische Theater für unsere sozialistische Bildungspraxis bei den Falken relevant. Während wir bei den Falken meist sehr gut darin sind, den gesellschaftlichen Ursachen unserer alltäglichen Erfahrungen auf den Grund zu gehen, hapert es meiner Beobachtung nach bei der Entwicklung politischer Strategien zu ihrer Bekämpfung.

Die Voraussetzung für erfolgreiche Strategieentwicklung ist, dass die Welt überhaupt veränderbar erscheint. Heute, nach Jahrzehnten neoliberaler Politik und Zurichtung der Einzelnen, ist das weitestgehend nicht mehr der Fall. „Es ist leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“ schrieb der Kulturtheoretiker Mark Fisher 2012 in Kapitalistischer Realismus ohne Alternative. Dieser Fatalismus, der sich seit 2012 durch immer rascher aufeinander folgende Katastrophen (Klimawandel, Pandemie, Krieg) nur weiter verstärkt, macht auch vor der Linken nicht Halt. 

„Mit hängenden Schultern / Hocken die meisten und Stirnen, durchfurcht wie / Immer wieder vergeblich gepflügte Steinäcker. / Erschöpft / Von den unablässigen Kämpfen des Alltags erwarten sie / Gierig (…) Etwas Knetung / Ihrer erschlafften Gemüter. Etwas Spannung / Abgespannter Nerven. Billiges Abenteuer, den Griff magischer Hände / Der sie entführt aus der aufgegebenen / Nicht meisterbaren Welt. “

Bertolt Brecht: Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung (1934) 

Die Rolle der Kulturindustrie und die Aufgabe sozialistischer Gegenkultur

Mark Fisher zufolge wird die resignative Grundhaltung der Einzelnen durch eine Kultur verstärkt, die anstrengungslosen Genuss verspricht. Er bezeichnete diesen gegenwartstypischen Zustand als „depressive Hedonie“: die perspektiv- und hoffnungslose Sucht nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung. 

Formate wie Netflix, Insta oder Tik Tok haben das Versprechen anstrengungslosen Genusses seit den 10-er Jahren optimiert. Dadurch, dass sie ihren Nutzer*innen individuell auf sie zugeschnittene Inhalte vorschlagen, „bewahren“ sie sie vor der Konfrontation mit neuen und dadurch zunächst sperrigen oder unverständlichen Inhalten. Die sozialen Medien servieren auch komplexe Inhalte in leicht verdaulichen Häppchen und in so schneller Folge, dass Nutzer*innen nur Raum für eine in die Tiefe gehende Auseinandersetzung haben, wenn sie ihn sich gegen das nahegelegte Nutzungsverhalten bewusst nehmen. Je nach konsumiertem Inhalt dient diese Art von Kulturprodukt der Betäubung und Weltflucht oder aber sie überflutet die passiven und vereinzelten (!) Rezipient*innen mit Schreckensmeldungen oder aufgeheizten Diskussionen. Demgegenüber besteht die Aufgabe sozialistischer Gegenkultur damals wie heute darin, eine Alternative zum “Griff magischer Hände” anzubieten: Kunst, die Spaß macht und zugleich die Welt als veränderbar darstellt, die Lust an der Produktivität fördert und die einen Raum bereitet, um spielerisch politisches Handeln einzuüben.

Die Aufteilung in Produzent*innen und Konsument*innen aufheben

Das epische und das Lehrstücktheater heben die Aufteilung in Publikum (passiv) und Produzent*innen (aktiv) auf. Im Lehrstücktheater werden die Konsument*innen direkt zu Produzent*innen. Diejenigen, die ansonsten Publikum wären – also Laien – produzieren selbst, und zwar nicht für die Bühne, sondern für sich. Im epischen Theater bleibt die Trennung zwischen Zuschauer*innen und Produzent*innen formal erhalten, das Publikum wird aber mittels unterschiedlicher Verfahren aktiviert. 

Das Lehrstücktheater am Beispiel der „Maßnahme“

Die Maßnahme ist ein Lehrstücktext, der von Brecht Anfang der 1930er Jahre geschrieben wurde. Die Grundsituation in der Maßnahme ist die Selbstanklage von vier Genossen vor der Partei. Sie haben einen jungen Genossen erschossen, weil dieser wiederholt spontanen Impulsen folgte, statt sich an Parteibeschlüsse zu halten und dadurch das Gelingen der politischen Aufgabe gefährdete. 

In der Lehrstückpraxis sollen die Spieler*innen abwechselnd die unterschiedlichen Rollen einnehmen: Kontrollchor (Richter), Agitatoren (Angeklagte) und die des jungen Genossen, so, wie er von den Angeklagten dargestellt wird. Die Methode ist die der Einfühlung. Mit Einfühlung ist allerdings nicht die Einfühlung in ein Individuum, z.B. den jungen Genossen, mit bestimmten Eigenschaften, Vorlieben etc. gemeint, sondern die Einfühlung in politische Haltungen – die des jungen Genossen und die der Partei. 

In der bürgerlichen Rezeption herrscht bis heute die Meinung vor, Die Maßnahme führe die Brutalität des kommunistischen Parteiapparats vor, gegen dessen Allmacht die spontan-menschlichen Regungen des Individuums nichts gelten. Ihr erscheint der junge Genosse als positive Figur. Demgegenüber gab es unter deutschen Sozialist*innen in den 70er-Jahren die Tendenz, den jungen Genossen als durchweg negative Figur zu verstehen, als Beispiel für eine idealistische Haltung und Herangehensweise und deren negative Folgen. Beide Verständnisse reduzieren den Text auf eine Vorlage des guten bzw. schlechten Beispiels. 

Schon in der Lehrstückarbeit in den 70er-Jahren zeigte sich, dass die eindeutige Interpretation die Arbeit langweilig machte. Eine Theatergruppe kam zu dem Schluss, dass es notwendig sei, den konkreten politischen Kontext der im Stück dargelegten Situation genau zu bestimmen und im Spiel von ihm auszugehen – statt den Text als zeitlose Parabel zu verstehen. Nur dann könne sich die Dialektik von individueller Spontaneität/Emotionalität und kollektiver Autorität/Rationalität entfalten oder, in anderen Worten: nur dann können die Spielenden die dargelegte Situation als Problem ernst nehmen und versuchen, Lösungen zu finden, ohne sie einseitig aufzulösen – also undialektisch vorzugehen. 

Das Epische Theater

Das Epische Theater entstand in Abgrenzung zum bürgerlichen Theater. Letzteres lässt sein Publikum das Schicksal eines Individuums teilnahmsvoll miterleben. Brecht und sein Umfeld werteten diese Form des Theaters als emotionale Manipulation. Das Epische Theater will demgegenüber keine Emotionen steuern, sondern fordert sein Publikum zur Erkenntnis seiner Lebensumstände auf. 

Um zu erklären, wie das Epische Theater wirken soll, verwendete Brecht das Beispiel einer einfachen Straßenszene: Der Augenzeuge eines Verkehrsunfalls demonstriert Umstehenden, wie sich die Situation abspielte. Er zeigt das Verhalten der am Unfall beteiligten Personen, damit sich die Zuschauenden ein Urteil darüber bilden können. 

Das Zeigen ist eine der wichtigsten Vorgaben für epische Schauspielkunst. Statt sich in Individuen einzufühlen, sollen die Spielenden Verhaltensweisen zeigen. Diese distanzierte Spielweise, sowie andere Mittel der Verfremdung (z.B. Schautafeln auf der Bühne, die Bilder aktueller politischer Kämpfe zeigen oder das Bühnengeschehen kommentierende Chöre) ermöglichen es den Zuschauenden, die Vorgänge auf der Bühne in Ruhe zu betrachten und sich ebenso ein Urteil zu bilden wie die Umstehenden in der Straßenszene. Sie werden zu „eingreifendem Denken“ aufgefordert. Und weil es sich nur um Theater handelt, genießen sie den Vorzug, „ohne dringlichste Gefahr den üblichen Vorfällen beizuwohnen und somit / die Muße, sie zu studieren und sich das eigene Verhalten / Zurechtzulegen.“ 

Die Dialektik von Genuss und Produktivität

Nun ließe sich einwenden, dass diese beiden Formen des Theaters Arbeiter*innen heute wie damals zu viel zumuten. Wo die Arbeiterin in den 1930er Jahren von der körperlichen Anstrengung und der geistigen Monotonie erschöpft nach Hause kam, sind wir heute eher überladen mit Eindrücken und ausgelaugt von ständigem Stress. Ist eine Netflix-Serie oder das Abtauchen bei Instagram nicht genau das, was wir nach einem anstrengenden Tag brauchen? Den „Griff magischer Hände“, ein bisschen „Knetung des erschlafften Gemüts“? 

Bertolt Brecht hatte dazu einen interessanten Gedanken. Er meinte, die Aufgabe des Theaters sei es, die Lust der Menschen auf Veränderung, Einflussnahmeehmen und Vervollkommnung en, kurz: die Lust an der Produktivität zu wecken. Von den Falken kennen wir eine solche Erfahrung vielleicht schon. Es ist zwar sehr anstrengend, eine Haltung zur Welt zu entwickeln und sich zu organisieren, um sie zu verändern, aber es erzeugt auch Selbstbewusstsein, Mut und Zuversicht. Der Genuss, den das Lernen unter guten Umständen und die Produktivität verschaffen, ist gewissermaßen ein Genuss auf einer höheren Ebene als der, den eine Netflix-Serie bieten kann. 

Weil das Brecht‘sche Theater Spiel und Genuss mit Erkenntnis und Produktivität verbindet, ist es wert, für unsere pädagogische Praxis wiederentdeckt zu werden!

Miriam Bähr
KV Bremen