Warum wir nicht alle Arbeiter*innen sind – und warum wir trotzdem gewinnen können!

Die Behauptung, es gäbe mittlerweile keine Klassen oder mindestens keine Arbeiter*innenklasse mehr, ist auch in der Linken immer noch verbreitet. Die Welt heutzutage scheint komplizierter, immerhin gibt es in den kapitalistischen Zentren eine ganze Reihe von Dienstleistungsberufen, die nicht so recht zum Bild der schaffenden männlichen Malocher passen wollen. Ein Versuch, die Welt wieder einfach zu machen und den Klassenkampf wieder zu beleben, ist das Gegenargument, nach dem alle Lohnabhängigen Teil der Arbeiter*innenklasse sind. 

Was dieses Argument im 21. Jahrhundert zunehmend auch in der sozialistischen Linken populär macht, ist die wirkliche Notwendigkeit, überhaupt irgendein geteiltes Interesse im politischen Kampf zu betonen. Populäre liberale Gesellschaftskritiken leisten gerade eher das Gegenteil, nämlich extrem präzise die Unterschiedlichkeit von Unterdrückungserfahrungen auszuleuchten. Sie haben dabei den Vorteil, sehr unmittelbar und fast formelhaft an die Unterdrückungserfahrungen im Kapitalismus anschließen zu können. Keine zwei Erfahrungen im Kapitalismus sind gleich.

Die ebenso formelhafte Erwiderung, dass fast alle Menschen das Merkmal der Lohnabhängigkeit teilen, bleibt dagegen etwas zahnlos. Mit diesem Argument konkurriert die sozialistische Linke mit der liberalen Gesellschaftskritik auf deren Terrain, indem sie versucht die Klassenposition als formelhafte ja-nein-Frage zu fassen, die auf den individuellen Alltag angewendet werden kann: Kriegst du Lohn oder nicht? Statt auf ein gemeinsames Interesse wird auch hier nur auf ein gemeinsames Merkmal verwiesen und Interesse mit diesem Merkmal gleichgesetzt: Ihr seid lohnabhängig, ihr seid auf der gleichen Seite. Dass das kaum jemanden überzeugen kann, ist wenig verwunderlich: Zu krass sind die lebensweltlichen Unterschiede zwischen der rumänischen Spargelstecherin und dem Tönnies-Manager. 

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Ein Treppenwitz der Geschichte? – Aus „andere jugend“ wird wieder die „Arbeiter*innenjugend“

Bild: Lena Schliemann

Vielleicht habt ihr es schon mitbekommen: Die Bundeskonferenz hat beschlossen, die aj umzubenennen. Nachdem die Zeitung seit 30 Jahren “die andere jugend” hieß, heißt sie nun “Arbeiter*innenjugend” und ist damit ihrem ursprünglichen Namen “Arbeiterjugend” wieder deutlich näher. Doch warum wurde die Zeitung damals umbenannt und woher kommt die Entscheidung, dies nun wieder zu ändern? Dazu haben wir mit Genoss*innen gesprochen, die 1991 mitentschieden haben und auch einen Blick in die erste “andere jugend” geworfen – und können euch wärmstens empfehlen, es uns gleichzutun.

1991: Ist “Arbeiterjugend” noch zeitgemäß?

Unter dem Eindruck der Auflösung des Staatssozialismus (wir berichteten) in Osteuropa und dem Beitritt der DDR zur BRD stellte sich der Bundesvorstand in der Nachwendezeit die Frage, welche Jugendlichen man noch mit einer Zeitung erreicht, die “Arbeiterjugend” heißt. Im Editorial der Ausgabe 1/1991 wird darauf verwiesen, dass sich der Kapitalismus seit 1904 verändert habe und auch für eine sozialistische Jugendorganisation die Zielgruppe nicht mehr klar als arbeitende Jugend zu definieren wäre. Genoss*innen, die damals aktiv den Verband gestalteten, erinnern sich:

“Der Begriff war kein Zeitschriftentitel mehr, von dem sich Jugendliche angesprochen fühlen und sie identifizierten sich nicht mehr mit der Bezeichnung ‘Arbeiterjugend’, so war damals die politische Auffassung und Mehrheitsentscheidung.”

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Care-Arbeit und Krise – Zur Situation von Frauen in der Covid-19-Pandemie

Pflege am Boden – Flashmob für bessere Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals (Foto: Mundus Gregorius)

Dass vor dem Virus nicht alle gleich sind, ist seit Beginn der Pandemie der wichtige Einwand von links gegen all jene, die behaupten, „wir“ säßen in einem Boot und müssten nun zusammenhalten. Bereits bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten wurden durch die Pandemie zusätzlich verschärft. Bisher nur notdürftig verkleisterte oder noch halbwegs erträgliche Probleme treten nun voll ans Tageslicht. Dies betrifft auch das patriarchale Geschlechterverhältnis: Die Gesundheitskrise, so wurde mehrfach dargelegt, sei vor allem auch eine „Krise der Frauen“. Wie lässt sich diese Krise nach einem Jahr Pandemie (vorläufig) bilanzieren?  

Besondere Betonung hat in der Debatte um den geschlechtlichen Aspekt der Corona-Pandemie die häusliche Gewalt erfahren. Gleich zu Beginn des ersten Lockdowns warnten feministische Akteur*innen vor zunehmender Männergewalt innerhalb von Partner*innenschaften und Familien. Sie betonten das Problem fehlender Ausweichmöglichkeiten und Anlaufstellen für Frauen und Kinder. Tatsächlich haben Hilfsorganisationen einen Anstieg von Unterstützungsgesuchen festgestellt. Verlässliche Zahlen gibt es aufgrund der in privaten Räumen stattfindenden Gewalt und der (insbesondere in Pandemiezeiten) fehlenden sozialen Kontrolle nicht. Alles deutet allerdings darauf hin, dass auch hierzulande Männer eigene Krisenerfahrungen durch Aggressionen gegen Frauen und Kinder verarbeiten – ein typisches Muster patriarchaler Männlichkeit.

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„Wann wird es unsere Klasse treffen?“ – Schülerin sein in Coronazeiten

Nichts mit weihnachtlicher Besinnlichkeit – Der Schreibtisch der Autorin im Homeschooling

Am 13. März 2020 wusste ich, dass etwas anders ist. Schon seit Tagen wurde in allen Medien von einem Lockdown gesprochen. Das Coronavirus sei jetzt offiziell in Deutschland angekommen und die Infektionszahlen stiegen. Schulschließungen gab es in meinem Leben noch nie und die Vorstellung von ein paar überbrückenden Hausaufgaben unter ferienähnlichen Bedingungen fand ich gut. Ich war motiviert wie die meisten anderen auch. Wir stellten uns den Lockdown als große Entlastung vor.

Der Stress durch eigentlich bevorstehende Klausuren, Tests und Abgaben machte uns eh die ganze Zeit wahnsinnig. Eine kurze Pause vom Stress, um zu sich zu kommen, sich zu ordnen und frisch zu starten, war eine schöne Vorstellung.

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Ausgabe 3/2021: Beziehungsweisen

Liebe Leser*innen,

als Menschen stehen wir zueinander in Beziehung – in welcher Form auch immer. Der Kapitalismus prägt die Art und die Form des Zusammenseins und wirkt bis in die privatesten Bereiche unseres Lebens. Häufig begegnen wir uns unbewusst schon mit dem Gedanken: Was bringt dieser Kontakt mir gerade? Das macht natürlich etwas damit, wie wir zu anderen Menschen stehen und wie wir Freundschaften und Beziehungen führen. Gerade während Corona denken wir nochmal anders darüber nach, wie und mit wem und wie oft wir in Kontakt zu anderen Menschen treten. Für viele bedeutete das auch, eine “Bilanz” über die eigenen Beziehungen zu ziehen.

Können wir als Genoss*innen da raus und anders miteinander umgehen? Was passiert wenn Kinder dazukommen, die das Verhältnis von Politik, Privatleben und Lohnarbeit nochmal komplett durcheinanderwerfen? Und hilft der Begriff der „emotionalen Arbeit“ dabei, die Beziehungen, die wir in dieser Gesellschaft führen, zu verstehen? Mit diesen und mehr Fragen beschäftigen wir uns in der aktuellen aj 3/2021 “Beziehungsweise(n)”.

Wir wünschen euch beim Lesen eine gute Zeit und redet doch mit euren Freund*innen und Genoss*innen über diese schöne Ausgabe. 

Freundschaft!

Eure aj-Redaktion

Ausgabe 2/2021: Klasse

Liebe Leser*innen,

ihr haltet in diesem Moment etwas ganz besonderes in den Händen, nämlich die erste Ausgabe der Arbeiter*innenjugend. Wie es dazu kam, könnt ihr gleich lesen.

Passend dazu und auch zum Leitthema der kommenden zwei Jahre beschäftigen wir uns in dieser Ausgabe mit Klasse. Dazu haben wir darüber diskutiert, was dieser Begriff heute eigentlich bedeutet und wie sich unsere Klassenanalyse in unserer täglichen Praxis äußert. Außerdem haben wir zwei Bücher zum Thema rezensiert. Was ist Klasse überhaupt und wie spiegelt sich das in meinem Lebenslauf wider? Damit beschäftigt sich unter anderem das Buch “Klasse und Kampf”, das wir in dieser Ausgabe diskutieren.

Neben dem Schwerpunkt auf Klasse haben wir unter anderem ein längeres Interview mit Jana, unserer ehemaligen Bundesvorsitzenden, geführt, in dem sie mit uns über ihre Zeit im Bundesvorstand, die schönen und auch die schwierigen Momente, spricht.

Wir hoffen, ihr habt beim Lesen genauso viel Spaß wie wir beim Erstellen. 

Freundschaft!

Eure Redaktion

Die Nazi-Mädels: Immer Liebe und viel Sekt

Bild: Sören Kohlhuber

Das mediale und gesellschaftliche Bild von Frauen als Täterinnen

Frauen als aktive Täterinnen rechten Terrors? Den meisten Leser*innen kommt – natürlich – Beate Zschäpe in den Sinn, weitere weibliche Täterinnen werden wenige benennen können, obwohl beispielsweise der Gründer der Wehrsportgruppe Hoffmann formulierte, er wolle Frauen „gleichberechtigt an den Wehrsport“ heranführen, und dies auch tat. Unschwer ist also festzustellen, dass die Rollen von Frauen wenig beachtet und beschrieben wird: Die Haupttäter im Feld des Rechten Terrors und Rechtsterrorismus sind männlich. ‚Lone-wolf‘-Taten von Frauen gibt es faktisch nicht, dennoch gibt es auch im Phänomenbereich Rechter Terror nach 1945 durchaus Frauen, deren Rolle meist wenig beleuchtet wurde.

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Braucht Gedenken Orte? Keine Gedenktafel, kein Denkmal und kein Stein können das Ziel sein, sondern nur der Weg dorthin.

Gedenkstätte Buchenwald, Glockenturm mit Denkmal von Fritz Cremer / Bild: Wikimedia Commons

Die Frage im Titel dieses Artikels, mit der inhaltlich auseinanderzusetzen ich gebeten wurde, rief in mir zunächst einige Verwirrung hervor. Ausschlaggebend dafür war der sonderbare Akteur, der darin benannt wird: das Gedenken. Braucht das Gedenken einen Ort?, lautete denn also die Frage. Gedenken an sich hat jedoch kein Bedürfnis, keinen Wunsch und stellt sich auch diese Frage nicht. Denn Fragen nach derartigen Notwendigkeiten stellen sich stets die Subjekte, die die Antworten darauf zur Grundlage ihres Handelns machen wollen. Nach einiger Überlegung habe ich mich dazu entschieden, genau diese Tatsache zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen zu machen und im folgenden Artikel daran der Frage nachzugehen, wer eigentlich Orte des Gedenkens braucht und wozu? 

Funktionen von Gedenkorten

Gedenkorte initiieren zu wollen, kann verschiedene Gründe haben. Die zwei wichtigsten Motive, die sich hierfür benennen lassen, sind sicherlich einerseits die Schaffung eines Ortes für (individuelle) Trauer, beispielsweise um Verstorbene, andererseits jedoch die Generierung politischer Aufmerksamkeit für den Gegenstand des Gedenkens, gewissermaßen die Konstituierung eines Mahnmals. Beide Beweggründe müssen nicht zwangsläufig zusammenfallen: So ist eine Grabstätte auf einem Friedhof in vielen Kulturkreisen ein Ort des Gedenkens, beispielsweise für die Angehörigen und früheren Freunde der Toten. Geschaffen wird sie beispielsweise durch die Familie, die sich dort individuell oder gemeinsam an die verstorbene Person erinnert oder trauert. Eine politische Dimension des Gedenkens ist damit nicht automatisch verbunden. Diese entsteht, wird dem Ort eine über die individuelle Trauer hinausreichende Bedeutung zugemessen, z.B., weil jemand Opfer eines rassistisch motivierten Verbrechens wurde. Häufig ist die Politisierung des Gedenkens auch mit einer Erweiterung der Gruppe der Akteure, die die Initiierung eines Gedenkortes forcieren, verbunden sowie mit einer Veränderung der Anforderungen, die daran gestellt werden. Nicht allein die Familie, sondern auch politische Organisationen oder fremde Einzelpersonen wirken häufig daran mit. Die Ebene des privaten Gedenkens an einen Freund oder ein Familienmitglied wird damit verlassen. Politisches Gedenken stellt ein Ereignis oder eine Tat in den Mittelpunkt und erinnert an Menschen vor dem Hintergrund dieser Tat. Deshalb ist es beispielsweise nicht notwendig, die Opfer eines rechten Terroranschlags persönlich gekannt zu haben, um ihnen zu gedenken. Politische Gedenkorte befinden sich darum auch häufig an Tatorten oder Orten des öffentlichen Interesses und weniger an Gräbern, wenngleich diese z.B. mit Blick auf KZ-Gedenkstätten diese Orte nicht immer voneinander zu differenzieren sind. Doch selbst dort finden sich häufig noch unterschiedliche Gedenkorte für individuelles und politisches Gedenken. Denn auch wenn Angehörige der dort Ermordeten am politischen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus partizipieren, sind die Orte für sie eben noch etwas anderes: Orte der Trauer, die gewissermaßen das individuelle Grab ersetzen müssen, das die Nazis ihren Müttern, Vätern, Freund*innen und Genoss*innen verweigerten. Familien installieren deshalb Tafeln mit eingravierten Namen, die bisweilen stark an Grabsteine oder Grabmale auf „gewöhnlichen“ Friedhöfen erinnern. Zeremonien zu Gedenktagen, beispielsweise dem Befreiungstag oder dem internationalen Holocaust-Gedenktag finden dort jedoch nicht statt. Für das politische Gedenken sind andere Orte und Gedenkzeichen präferiert, die die gesellschaftliche Dimension des Geschehenen in den Mittelpunkt rücken. Auch wenn der Begriff des „Mahnmals“ heute häufig der verstaubten Mottenkiste des DDR-Antifaschismus zugerechnet wird, so teilen auch moderne Denkmäler diesen Impetus – wenngleich in weniger autoritärem Duktus. Auch sie sollen die Vergangenheit mit Blick auf die Zukunft deuten und sind sich nicht selbst Zweck. Sie thematisieren Rassismus und Antisemitismus mit dem Ziel, ihn in seinen mörderischen Auswirkungen sichtbar zu halten, zu skandalisieren und zu politischem Handeln dagegen in der Gegenwart aufzufordern. 

Selbst einen Gedenkort schaffen – Wozu? 

Derzeit gibt es öffentliche Debatten um die Errichtung von Gedenkorten zur Erinnerung an die Opfer rechten Terrors in der Gegenwart. So hat zum Beispiel die „Initiative 19. Februar“ einen Gedenkort für die Opfer des Anschlags von Hanau eingerichtet, bei dem 2020 zehn Menschen aus rassistischen Gründen ermordet wurden.  Die Synagogentür, die im Oktober 2019 dem Angriff eines rechtsextremen Attentäters standhielt und ein Blutbad an der jüdischen Gemeinde verhinderte, wurde kürzlich als Mahnmal neben der Synagoge installiert.

Einen Ort des Gedenkens für die Opfer rechten Terrors zu schaffen oder sich an den Debatten darum zu beteiligen, kann ein wichtiger politischer Akt auch für uns als sozialistischer Kinder- und Jugendverband sein. Doch nicht die Tatsache, dass irgendwann irgendwo eine Tafel, ein Stein oder etwas anderes installiert wird, ist dabei entscheidend. Ritualisierte Gedenkpraxen unhinterfragt zu reproduzieren, hilft sicherlich niemandem weiter. Dem Gedenkort voraus gehen muss eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Gedenkens. Sich mit den Ursachen rechten Terrors zu beschäftigen, kann beispielsweise eine Reaktion auf die spontane Fassungslosigkeit sein, die wir erleben, wenn wieder einmal Menschen Opfer rechter Gewalt geworden sind. Auch die Fragen, wie so ein Ort auszusehen habe, an wen er sich richtet oder wo er sich befinden solle, wären politisch zu diskutieren. Der Blick in die Vergangenheit hätte dann auch konkrete Konsequenzen für die Zukunft, für die eigene politische Praxis. Hürden und Widerstände, auf die die Initiator*innen von Gedenkorten im Laufe des Prozesses stoßen oder eben auch nicht, lassen uns darüber hinaus etwas über die Gesellschaft begreifen, in der wir leben und damit eben auch über die Gesellschaft, die die Rassist*innen, Antisemit*innen und Frauen*feinde hervorbringt, an deren mörderische Taten wir erinnern wollen. Jeder einzelne rechte Übergriff, antisemitische Anschlag und jedes rassistische Gewaltverbrechen ist auch ein Beweis des Scheiterns dieser Gesellschaft an ihrem Glücksversprechen auf ein Leben in Freiheit und Gleichheit für alle. Das beharrlich zu kritisieren und auch öffentlich sichtbar zu machen, dafür bräuchten wir Orte des Gedenkens.

Annika Neubert, LV Thüringen

Zwischen Gedenken und Spektakel: Die Opfer des Utøya-Anschlags gehen bei Falken viral

Am 22. Juli postete der Bundesverband auf Facebook ein Video anlässlich des 9. Jahrestags des Anschlags von Utøya und Oslo. Dass darin die eigenen Gefühle und die Namen der Opfer die zentrale Rolle spielen, erscheint mir jedoch aus mehreren Gründen kritikwürdig. Im Video lesen viele verschiedene Genoss*innen jeweils einen Namen sowie das Alter der 77 Getöteten vor, ergänzt um eine politische Erklärung zu Beginn und am Ende des Videos. Im ersten Teil dieser Erklärungen heißt es unter anderem, dass wir unserer Trauer und unserer Wut Raum geben wollen, dass wir keine*n der Ermordeten vergessen und in ihrem Andenken unseren Kampf für eine befreite Gesellschaft fortsetzen. Am Ende geht es unter anderem darum, dass wir in Gedanken bei ihren Freund*innen, bei ihren Angehörigen und bei den Überlebenden sind und dass wir uns noch immer die Zeit nehmen müssen, das Geschehene zu verarbeiten.

Schon grundsätzlich bin ich etwas skeptisch, was die Echtheit der bekundeten Trauer angeht. Zunächst lassen mich die objektiven Umstände daran zweifeln. Denn erfahrungsgemäß verfolgt politische Interessen, wer im politischen Kontext öffentlich und gerade nicht nur im Familien- und Freundeskreis Gefühle äußert. Auch wenn Trauer natürlich auch zu konkreten Anlässen auftauchen kann, finde ich es doch auffällig, dass diese jedes Jahr pünktlich zum Jahrestag des Anschlags bekundet wird, während das restliche Jahr über nicht die Rede davon ist. Abgesehen von 2015 reichte sie auch stets nur für ein paar Zeilen auf Facebook. Dass dieses Jahr ein aufwändiges Video produziert wurde, liegt wohl nicht daran, dass jetzt die Trauer größer ist als früher, sondern eher daran, dass nächstes Jahr Gedenkveranstaltungen zum Thema Utøya stattfinden sollen, für die Werbung gemacht werden soll.

Darüber hinaus fühle ich mich auch subjektiv nicht in erster Linie traurig, weil ich die ermordeten jungen Menschen persönlich gar nicht kenne. Ich habe Mitleid mit den Familien und Freund*innen der Getöteten, wenn ich mich, soweit es geht, in sie hineinversetze und versuche, mir vorstellen, wie schlecht es ihnen gegangen sein muss und vielleicht immer noch geht. Ich bin wütend, wenn ich mich mit dem Täter beschäftige und seine menschenverachtenden Aussagen höre. Und ich bin betroffen, wenn ich mir vorstelle, dass es mich oder meine Freund*innen und Bekannten von den Falken, den Jusos oder andere Linke treffen könnte. Mein Punkt ist: es fällt mir schwer, mir vorzustellen, um die Getöteten als Individuen zu trauern. Genau das ist jedoch der Ansatz des Videos.

Allerdings hat es mich traurig gemacht, mir die emotional vorgetragenen Namen sowie das Alter der Ermordeten anzuhören. Ich würde sagen, das liegt daran, dass das Video genau darauf angelegt ist: Trauer und Emotionalität hervorzurufen, obwohl es vorgeblich der vorher schon vorhandenen Trauer bloß Ausdruck verleihen soll. Auch deswegen denke ich, dass das Video in erster Linie ein Werbevideo für die Utøya-Fahrt und im weiteren Sinne für die politischen Ansichten der Falken ist. Genau wie in jeder anderen Werbung werden Emotionen erzeugt und diese dann mit dem eigenen Produkt verknüpft. Das zeigt sich meiner Meinung nach auch daran, dass man nur wenige Worte im Video austauschen müsste, um die Namen der Ermordeten nicht mit der Politik der Falken und der Utøya-Fahrt zu verknüpfen, sondern beispielsweise mit der Forderung nach schärferen respektive lockereren Waffengesetzen oder nach mehr Polizei und stärkerer Überwachung der Bürger*innen. Oder noch abgeschmackter: es würde genauso gut funktionieren, mit den Namen der Getöteten Werbung für Waffenhersteller zu machen, weil sich die Jugendlichen mit ihren Produkten ja hätten verteidigen können. Denn das Video tut nur so, als würde aus dem Tod der jungen Menschen unmittelbar die Legitimation für Sozialismus und Linksradikalismus folgen. In Wahrheit folgt aus Namen, Alter und Anzahl der Ermordeten an sich aber natürlich keine einzige politische Maxime. Unsere Überzeugung, dass die kapitalistische Gesellschaft Rechtsradikalismus und die aus ihm folgenden Mordtaten immer wieder hervorbringen wird, ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Mord, sondern aus der rationalen Reflexion der Tat und dem Nachdenken über die Gesellschaft, in der dieser Mord geschah. Eine solche Reflexion kann ein Ansatz, der die Opfer als Individuen in den Mittelpunkt rückt nicht nur nicht, sondern bewirkt sogar eher das Gegenteil, indem es vor allem Emotionen hervorruft. Daher kommt das Video radikal daher, ist es in meinen Augen aber in Wahrheit nicht – was sich daran zeigt, dass sogar der Bundespräsident zum Anschlag in Hanau einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgen kann, um für genau die Demokratie Werbung zu machen, die den rechten Terror hervorbringt.

Und sogar noch mehr: dieser Unmittelbarkeitsgedanke führt dazu, dass die getöteten jungen Menschen mit ihrem Namen, also als Individuen, für die eigene Politik eingespannt werden. Verfolgen Nazis die Strategie, die Namen von Opfern für ihre Politik zu gebrauchen, wird das von Links sehr deutlich verurteilt und die angebliche Trauer der Nazis klar als politische Propaganda benannt. Beispielhaft dafür ist der Fall des im August 2018 in Chemnitz getöteten Daniel H., nach dessen Tod es zu den vieldiskutierten Hetzjagden kam. Die Nazis erklärten ihn zum aufrechten Deutschen, der Frauen gegen Geflüchtete verteidigt und stellten Kerzen, Grablichter, Trauerkarten und Blumen an den Tatort, während Linke und Bürgerliche darauf hinweisen, dass Daniel H. “gegen Hass” und “gegen jeden Fanatismus” war und die Trauer von rechts in Wahrheit Instrumentalisierung. Natürlich ist das bei den Opfern des Anschlags von Utøya damit nicht gleichzusetzen. Schließlich ist die AUF, der Jugendverband der norwegischen Sozialdemokraten, deren Camp angegriffen wurde, ja eine linke Organisation und die Getöteten waren linke Jugendliche und junge Erwachsene. Aber Linke sind ja auch kein homogener Block und ich würde mit meinem Namen nicht gerne in einem Facebook-Post wie dem des Bundespräsidenten vorkommen. 

Jetzt könnte man einwenden, dass zu Beginn des Videos ja heißt, dass die Namen nicht etwa genannt werden, um Emotionen zu erzeugen, sondern weil „die Mitte der Gesellschaft“ von Terroranschlägen wie dem von Utøya „nichts wissen will“ und die Opfer vergisst, weswegen wir ihre Namen nennen müssen, um gegen das Vergessen anzukämpfen. Abgesehen von der Floskel „kämpfen“, die jedem politischen Ziel sofort den Anstrich von Radikalität geben soll, beruht die Aussage allein auf dem typisch linksradikalen rhetorischen Trick, „der Mitte“ alles Mögliche anzulasten, weil dann jede andere Handlung ohne jede Begründung oder Nutzen allein durch ihren (angeblichen) Gegensatz zur Mitte schon widerständig und damit gut ist. Aber ist es nicht eher so, dass es der bürgerlichen Politik und ihrer Art mit Anschlägen wie dem von Utøya umzugehen, sogar ganz gelegen kommen könnte, die Namen in den Mittelpunkt zu stellen, eben weil diese an sich überhaupt keine politische Maxime legitimieren?

Jan Schneider, LV Thüringen

AG Gedenken

Im Rahmen des Projektes „Lernen und Gedenken an den Rechten Terror“ werden momentan durch eine AG des Bundesvorstands verschiedene Methoden, Texte und Formate erarbeitet, die der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex dienen sollen. Dazu gehört auch das Video, das Jan in seinen Artikel kritisch bespricht. Ihr findet es auf unserem YouTube-Kanal. In der folgenden Ausgabe wird Steffen auf Jans Kritik antworten.

Hintergrund

Bundespräsident Steinmeier hat rund sieben Monate nach dem Anschlag in Hanau, Angehörige der Opfer in Schloss Bellevue empfangen. Er sagte: „Wir erinnern uns an neun Menschen, neun junge Leben. Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie verstanden sich als Hanauer – ganz egal, woher sie oder ihre Familien einmal gekommen waren, woran sie glaubten, woran sie Freude hatten.“ Der Bundespräsident betonte: „Wer Menschen aufgrund irgendwelcher Merkmale in Gruppen zwingt und abwertet; wer sie auf ihre Herkunft, ihren Glauben, ihr Geschlecht oder ihre Lebensanschauung reduziert; wer ihnen ihre Einzigartigkeit nimmt, der stellt sich gegen das Lebensprinzip unserer Demokratie. Die Würde des Menschen, jedes einzelnen Menschen, ist unantastbar. Sie steht unter dem Schutz unseres Grundgesetzes.“